Revolution - Erzählungen
du?«, frage ich ihn. Yasir sagt nichts. Er dreht sich um und geht die paar Schritte zum Körper des Bauern, der reglos im Matsch liegt. Yasir hebt das Gewehr und schießt – der Körper zuckt. Ich wende mich ab, klettere in die Kabine, hinters Steuer, schließe die Tür.
»Wir fahren jetzt!«, schreie ich. Langsam kommt Yasir zur Beifahrerseite. Legt das Gewehr auf den Boden des Fahrerhäuschens. Klettert hinein. »Beeil dich«, fordere ich ihn auf. Schwerfällig und stöhnend lässt er sich auf den Sitz fallen, schließt die Tür und blickt stur geradeaus.
»Was ist mit Qasim?«, wiederholt er.
»Qasim ist tot«, antworte ich und lege den Gang ein.
Nachtwache, Helsinki
Die heutige Vorlesung ist vorbei, ich hab’s nicht mehr geschafft; ich sitze mit Zigarette und Zeitung in der Kaffeebar. Es ist Winter. Am Hafen wurde ein Nachtwächter von einem Lastwagen voller gestohlener Videoaufnahmegeräte totgefahren. Die Rettungskräfte mussten die Leiche morgens vom Asphalt lösen. Die Körperwärme hatte den Schnee schmelzen lassen. Hinterher fror das Wasser zu Eis.
Ich muss zur Arbeit. Fünf Tage in der Woche schleife ich von vier Uhr nachmittags bis zehn Uhr abends die Kufen in einer Schlittschuhhalle. Ich selbst kann nicht Schlittschuh laufen.
Helsinki ist weiß. Schnee und Haut. Die Universität ist Scheiße. Philosophie. Kant, Hegel, Schopenhauer. Große Gedanken, Ideen – aber die Welt … nein, nicht die Welt, die Menschen – wir sind dieselben. Der Mensch ist weder gut oder schlecht, er ist opportunistisch.
Es ist nicht so, wie ich es mir mal gedacht habe: dass ich dabei bin, einen neuen Weg ins Leben zu betreten, einen richtigen. Ich latsche auf ausgetretenen Pfaden. Ich leuchte nicht, ich spende Schatten. Warum? Eine Tat muss nicht nur gut sein. Utopien sind Utopien. Humanisten, die allen anderen zurufen, sie müssten sich nur anständig benehmen, dann würde die Welt schon schön werden. Verkleideter Faschismus. Die Philosophen. Humbug. Ich muss auch weiterhin fressen, scheißen, schlafen. Lesen ist nichts wert im Vergleich zu Erfahrung. Die Worte sind der Staub, der sich über unser Fleisch legen soll. Aber in mir lauert das Reptiliengehirn. Und das interessiert sich nur für drei Dinge: Sex, Essen und Macht.
Wir sind verschieden; was für den einen gut ist, hält ein anderer für Zerstörung. Kein One Love -Paradies auf der Erde, kein Zion. Nur Babylon. Schrecken, dread – es wächst mir aus dem Kopf. Meine dreadlocks kommen gerade wieder. Vor vier Monaten hatte ich sie abgeschnitten, weil ich Probleme bekam. Im Sommer waren sie wunderbar, ich habe Golf gespielt und war der Lion of Zion . Ein paar Mädchen interessierten sich für mich. Ein Besoffener fasste mir an eine der langen dreads . ›Is’ das echtes Haar? Oder has’ du dir das irgendwo machen lass’n?‹ Ich sagte: ›Es ist echt.‹ Er: ›Wie wird das denn so?‹ Nicht besonders höflich. Ich sagte: ›Es wächst. Ich lass es einfach in Ruhe.‹ So habe ich es gemacht. Ich habe es einfach in Ruhe gelassen. Die Haarwülste, die zu dick wurden, habe ich auseinandergezupft. Sonst zieht das Haar die Haut auf dem Schädel zusammen – vermutlich kann man dann irgendwann den Skalp abziehen. Im Spätsommer bekam ich eine Art Skalp-Pest und musste alles abschneiden, weil es blutete. Ich hatte Geschwüre und Narben. Wahrscheinlich lag es nur an Schuppen und Dreck. Es war ein heißer Sommer. Ich habe Golf gespielt, geschwitzt und eine Menge Bier getrunken. Das ist nicht sonderlich gesund. Unter einer Dusche wird man nicht klar im Kopf, wenn man allmählich fett wird, Bier trinkt und einem eine Menge Chemikalien aus der Haut quillt. Man sollte nicht so tun, als sei man dread , wenn man trinkt. Das ist ein Teil der grundlegenden Philosophie. Und logisch: Was man in sich reinfrisst, muss auch wieder raus. Ich habe die abgeschnittenen dreads aufgehoben und sie zu einem kurzen Seil geflochten. Meinen Bierkonsum gesenkt. Nun wachsen meine dreads wieder. Ich befreie meinen Kopf von dem Grauen, bis ich ein drei Meter langes Seil geflochten habe. Lange genug, um mich daran aufzuhängen. Sollte ich mich fortpflanzen, bevor das Seil lang genug ist, werde ich es an einen Ast binden und einen Autoreifen daran knoten – eine Schaukel für meine Nachfahren. Ein Kind – wozu? Um das Grauen aufzuheben? Oder um es weiterzugeben, damit es aufs Neue erlebt werden kann? Oder ich schaukele selbst. Dreadlock .
Die Polizei erklärt gegenüber der Zeitung, die
Weitere Kostenlose Bücher