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Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit

Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit

Titel: Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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Adergeflechte. Ich begann, an meinem ersten Eindruck zu zweifeln. Vielleicht hatte ich es doch mit einer Lebensform zu tun?
    Das Sehnengewirr wirkte eher wie eine Verschmelzung von Lebewesen und Maschine: ein groteskes Mischwesen, das Childes wahnsinnigen Onkel vermutlich entzückt hätte.
    »Wie hoch ist er?«, fragte ich.
    »Etwa zweihundertfünfzig Meter«, antwortete Childe.
    Jetzt entdeckte ich auf Golgathas Oberfläche winzige Lichtpunkte, fast als wären von dem Bauwerk Metallschuppen abgefallen.
    »Was ist das?«, fragte ich.
    »Ich zeige es dir«, antwortete Childe.
    Er vergrößerte das Bild noch stärker, bis sich die Lichtpunkte zu erkennbaren Formen auflösten.
    Es waren Menschen.
    Genauer gesagt die Überreste von Menschen. Wie viele es gewesen waren, ließ sich nicht mehr feststellen. Alle waren irgendwie verstümmelt worden: zerquetscht, amputiert oder durchgeschnitten. Da und dort waren noch Fetzen von Raumanzügen zu sehen. Die Gliedmaßen lagen oft zwanzig, dreißig Meter vom zugehörigen Rumpf entfernt.
    Als hätte man sie in einem Wutanfall weit fort geschleudert.
    »Wer war das?«, wollte Forqueray wissen.
    »Die Besatzung eines Raumschiffs, das zufällig in dieses System einflog, um Reparaturen am Hitzeschild vorzunehmen«, erklärte Childe. »Der Captain hieß Argyle. Sie fanden den Turm und wollten ihn erkunden, in der Hoffnung, irgendeine Technologie von unschätzbarem Wert zu finden.«
    »Und was geschah dann?«
    »Die Raumfahrer gingen in kleinen Gruppen hinein, manchmal auch alleine. Drinnen wurden sie vor eine Reihe von Aufgaben gestellt, die mit jedem Mal schwieriger wurden. Wenn sie einen Fehler machten, wurden sie vom Turm bestraft. Anfangs waren die Strafen noch leicht, doch mit der Zeit wurden sie immer härter. Wichtig war zu erkennen, wann man sich geschlagen geben musste.«
    Ich beugte mich vor. »Woher weißt du das alles?«
    »Argyle überlebte. Nicht lange, zugegeben, aber doch so lange, dass meine Maschine einiges aus ihm herausbekommen konnte. Sie war nämlich schon die ganze Zeit auf Golgatha gewesen – hatte beobachtet, wie Argyle eintraf, und heimlich aufgezeichnet, wie sich seine Mannschaft mit dem Turm herumschlug. Sie sah auch, wie er herausgekrochen kam und wie wenig später der letzte von seinen Leuten ausgeworfen wurde.«
    »Ich weiß nicht, ob ich mich auf die Aussagen einer Maschine oder eines Sterbenden verlassen kann«, sagte ich.
    »Das brauchst du auch nicht«, gab Childe zurück. »Halte dich nur an das, was du mit eigenen Augen siehst. Zum Beispiel diese Spuren im Staub. Sie führen alle auf den Turm zu, aber zu den Leichen führt so gut wie keine.«
    »Und das heißt?«, fragte ich.
    »Das heißt, dass sie hineingingen, genau wie Argyle sagte. Achte auch darauf, wie die Überreste verteilt sind. Sie liegen nicht alle in der gleichen Entfernung vom Turm, sondern wurden wohl aus verschiedenen Höhen abgeworfen. Daraus kann man schließen, dass einige der Leute weiter nach oben zur Spitze vordrangen. Auch das passt zu Argyles Geschichte.«
    Jetzt begriff ich, worauf das Ganze hinauslief, und mir wurde himmelangst. »Du willst, dass wir zu diesem Planeten fliegen und herausfinden, was für die Raumschiffbesatzung so interessant war? Richtig?«
    Er lächelte. »Du kennst mich eben zu gut, Richard.«
    »Ich dachte eigentlich, dass ich dich kenne. Aber du müsstest schon völlig verrückt geworden sein, um auch nur in die Nähe von diesem Ding zu gehen.«
    »Verrückt? Mag sein. Oder nur sehr, sehr neugierig. Die Frage ist …« Er hielt inne, beugte sich über den Tisch und füllte noch einmal mein Glas, ohne den Blickkontakt zu unterbrechen. »Wie steht es mit dir?«
    »Ich bin keins von beiden«, sagte ich.
    Aber Childe konnte sehr überzeugend sein. Einen Monat später war ich auf Forquerays Schiff und lag im Kälteschlaf.

Zwei
     
     
    Wir gingen um Golgatha in den Orbit.
    Nachdem wir aus dem Kälteschlaf erwacht und vollends aufgetaut waren, fuhren wir mit einer Transportkapsel schiffaufwärts und trafen uns im Versammlungsraum des Lichtschiffs zum Frühstück.
    Alle waren da, auch Trintignant und Forqueray. Letzterer atmete durch sein beeindruckendes Gebilde aus Kolben, Retorten und Spiralröhren, das er von Yellowstone mitgebracht hatte. Trintignant hatte nicht wie die anderen geschlafen, aber man sah ihm keinerlei Erschöpfung an. Childe sagte, er hätte ganz besondere Ausscheidungsorgane, die mit den Standardsystemen der Kälteschlaftanks nicht

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