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Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit

Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit

Titel: Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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meinen Füßen. Als ich die Hand mit dem dicken Handschuh hob, strich Golgathas dünne Atmosphäre über meine Handfläche. Die taktile Übertragung war hervorragend, und der Anzug machte alle Bewegungen so fließend mit, dass ich mich in keiner Weise behindert fühlte. Auch die Aussicht war beeindruckend, denn anstatt mich durch ein Visier schauen zu lassen, projizierte der Anzug die Bilder direkt auf meine Netzhaut.
    Am oberen Rand meines Blickfelds zeigte mir ein Streifen eine Dreihundertsechzig-Grad-Rundumsicht, von der ich auf Wunsch jeden Bereich beliebig vergrößern konnte. Ebenso leicht ließen sich verschiedene Overlays – Sonar, Radar, Infrarot, Gravimetrie – über das bestehende Feld legen. Wenn ich nach unten schaute, konnte ich den Anzug sogar veranlassen, mich aus dem Bild zu löschen, sodass ich die Szene so betrachten konnte, als gehörte ich nicht dazu. Beim Gehen wurde ein Lichtnetz über die Landschaft geworfen; ein Geflecht aus Neonstreifen, die sich da oder dort um einen besonders geformten Felsen oder eine eigentümliche Geländeformation herum verdichteten. Nach einigen Minuten hatte ich die Wahrnehmungsschwelle meinem Sicherheitsbedürfnis angepasst, nicht zu empfindlich, aber auch nicht zu grob gerastert.
    Childe und Forqueray hatten die Führung übernommen. An sich wären sie schwer auseinander zu halten gewesen, aber mein Anzug hatte ihre Anzüge zum Teil gelöscht, sodass sie für mich nur durch eine dünne zweite Haut geschützt waren. Wenn sie mich ansahen, war die Illusion die gleiche.
    Trintignant folgte ihnen in einigem Abstand. Ich hatte mich inzwischen schon fast an die automatenhafte Eckigkeit seiner Bewegungen gewöhnt.
    Hinter ihm kam Celestine, und gleich danach ich.
    Hirz bildete – klein, brandgefährlich und, seit ich sie besser kannte, nicht zu verwechseln mit den wenigen Kindern, denen ich jemals begegnet war – die Nachhut.
    Und vor uns erhob sich – immer größer werdend -das Ungeheuer, das wir besiegen wollten.
    Natürlich war es schon lange vor der Landung zu sehen gewesen. Der Blutturm war immerhin einen Viertelkilometer hoch. Aber ich glaube, wir hatten ihn alle bewusst ausgeblendet, bis wir ihm nahe genug waren. Erst jetzt ließen wir die mentalen Barrieren fallen und zwangen unsere Phantasie, sich mit seiner Existenz auseinanderzusetzen.
    Stumm wie ein riesiger Dolch ragte er in den Himmel.
    Im Wesentlichen entsprach er dem Bild, das Childe uns gezeigt hatte, nur erschien er uns jetzt viel massiver. Noch waren wir zweihundertfünfzig Meter von seiner Basis entfernt, doch schon schien sich die bauchige Zwiebel an der Spitze über uns zu neigen, als wollte sie herabstürzen und uns zerquetschen. Durch die vereinzelten hohen Wolken, die, von den dünnen, schnellen Luftströmungen in Golgathas Atmosphäre verwirbelt, darüber hinzogen, wurde diese Wirkung noch verstärkt. Lange standen wir da und bestaunten den riesigen Koloss – sein Alter, die dumpfe Bedrohung, die er um sich verbreitete – und schon die Vorstellung, die Spitze erstürmen zu wollen, klang bedenklich nach Aberwitz.
    Doch nach einer Weile meldete sich leise die Stimme der Vernunft und mahnte, genau diesen Eindruck hätten die Erbauer vermutlich angestrebt.
    Mit dieser Erkenntnis fiel es mir ein klein wenig leichter, den nächsten Schritt zu tun.
    »Sieht ganz so aus«, bemerkte Celestine, »als hätten wir Argyle gefunden.«
    Childe nickte. »Jedenfalls das, was von dem armen Teufel noch übrig ist.«
    Wir hatten inzwischen etliche Körperteile entdeckt, doch dies war der erste nahezu vollständige Leichnam. Der Captain hatte im Innern des Turmes ein Bein verloren, sich aber zum Ausgang geschleppt, bevor ihm Blutverlust und Atemnot gemeinsam den Garaus machen konnten. Hier hatte Childes Abgesandter, der erst kurz zuvor sein Versteck verlassen hatte, den Sterbenden befragt.
    Vielleicht hatte ihn der Captain für einen stählernen Gnadenengel gehalten.
    Sein Zustand war nicht der beste. Auf Golgatha gab es keine Bakterien und auch nichts, was man beim besten Willen als Wetter hätte bezeichnen können. Aber es gab heftige Staubstürme, die den Leichnam wiederholt begraben und wieder freigelegt haben mussten. Dabei war er übel zugerichtet worden. Teile des Anzugs fehlten, der Helm war aufgebrochen, der Schädel lag frei. Hier und dort hafteten papierdünne Hautfetzen an den Knochen, aber von einem Gesicht konnte nicht mehr die Rede sein.
    Childe und Forqueray betrachteten die Leiche mit

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