Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit

nichts, aber wir werden sehen.«
    Tatsächlich war es ein gewaltiger Fortschritt.
    Trintignants Maschinen überlagerten unsere vorhandenen, jämmerlich langsamen synaptischen Bahnen nicht nur, sondern gestalteten sie um und konfigurierten die Topologie so, dass das mathematische Verständnis auf ein Niveau gesteigert wurde, das mit den Neuralmodifikatoren allein nicht zu erreichen gewesen war. Zwar fehlte uns Celestines brillante Intuition, aber wir hatten den Vorteil, zumindest subjektiv länger an jeder Aufgabe arbeiten zu können.
    Und zumindest für eine Weile ging alles gut.

Zehn
     
     
    »Du verwandelst dich allmählich in ein Monster«, sagte sie.
    »Ich tue nur, was nötig ist, um den Blutturm zu schlagen«, gab ich zurück.
    Ich stakste auf meinen dünnen Insektenbeinen vom Shuttle weg wie auf motorisierten Stelzen. Eine eigene Panzerung brauchte ich nicht mehr: Trintignant hatte mir harte schwarze Platten auf die Haut aufgepflanzt, die wie die Schalen eines Hummers übereinander glitten.
    »Du redest sogar schon wie Trintignant.« Celestine folgte mir. Ihr Schatten erschien neben mir: er war asymmetrisch, der meine schmal und lang gestreckt wie ein Gespenst.
    »Ich kann es nicht ändern«, piepste ich durch den Sprach-Synthesizer. Mein Mund war jetzt fest verschlossen.
    »Du kannst aufgeben. Noch ist es nicht zu spät.«
    »Nicht bevor Childe aufgibt.«
    »Und dann? Glaubst du, selbst das könnte dich von diesem Wahnsinn abbringen, Richard?«
    Ich drehte mich zu ihr um. Sie war bemüht, ihren Abscheu hinter ihrem Visier zu verbergen.
    »Er wird nicht aufgeben«, sagte ich.
    Celestine streckte die Hand aus. Ich dachte zunächst, sie wollte mir winken, doch dann sah ich den Gegenstand auf ihrer Handfläche. Klein, schwarz und hart.
    »Das hat Trintignant vor dem Blutturm gefunden und dann in meinem Zimmer liegen lassen. Ich glaube, er wollte uns etwas mitteilen. Eine Art Wiedergutmachung. Erkennst du es, Richard?«
    Ich zoomte mir das Objekt heran. Ringsherum flackerten Zahlen auf. Die Bildverstärkung schaltete sich zu. Oberflächenstruktur. Topologische Konturen. Albedo. Wahrscheinliche Zusammensetzung. Ich sog die Daten so gierig ein wie ein Säufer den Alkohol.
    Ich lebte nur noch für Daten.
    »Nein.«

Elf
     
     
    »Ich höre etwas.«
    »Natürlich hörst du etwas. Den Blutturm, genau wie immer.«
    »Nein.« Ich schwieg eine Weile. Vielleicht schickte mein aufgerüstetes Hörorgan falsche Signale an mein Gehirn?
    Doch da war es wieder: ein Grollen wie von fernen Maschinen, immer wieder unterbrochen, aber näher kommend.
    »Jetzt höre ich es auch«, sagte Childe. »Es kommt von hinten. Aus der gleichen Richtung wie wir.«
    »Es klingt, als würden sich viele Türen nacheinander öffnen und schließen.«
    »Ja.«
    »Und was mag der Grund dafür sein?«
    »Offenbar folgt uns etwas durch alle Räume.«
    Childe überlegte – minutenlang, wie mir vorkam, in Wirklichkeit wahrscheinlich nur Sekunden. Dann schüttelte er den Kopf. »Uns bleiben elf Minuten, um durch diese Tür zu kommen, bevor wir bestraft werden. Wir können uns nicht auch noch um andere Dinge kümmern.«
    Ich musste ihm widerwillig Recht geben.
    Als ich mich wieder dem Rätsel zuwandte, begannen die Maschinen in meinem Kopf erneut an seinen mathematischen Widerhaken zu zupfen. Das erbarmungslose Uhrwerk, das mir Trintignant in den Schädel gepflanzt hatte, drehte sich Schwindel erregend. Ich war nie sonderlich schnell im Erfassen mathematischer Strukturen gewesen, aber jetzt spürte ich die Mathematik wie einen harten Wahrheitskern unter jeder Oberfläche: sie schimmerte wie ein Knochengerüst durch das dünne Fleisch der Welt.
    Sie war mittlerweile fast das Einzige, woran ich denken konnte. Alles andere kam mir quälend abstrakt vor – früher war es genau umgekehrt gewesen. So musste sich ein ›Idiot savant‹ fühlen, dachte ich, ein Mensch, der auf einem hoch spezialisierten wissenschaftlichen Gebiet außergewöhnliche Leistungen erbrachte.
    Ich war zu einem Werkzeug geworden, das so präzise auf eine bestimmte Tätigkeit zugeschnitten war, dass es zu nichts anderem mehr taugte.
    Eine Maschine zur Lösung des Blutturm-Rätsels.
    Seit wir alleine waren – und uns nicht mehr auf Celestine verließen –, erwies sich auch Childe als überdurchschnittlich stark im Lösen von mathematischen Problemen. Ich hatte mehrfach auf Symbole gestarrt, aus denen ich trotz meiner neu gewonnen Fähigkeiten nicht klug wurde, während Childe die