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Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit

Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit

Titel: Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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Konturen so weit verwischte, dass der Eindruck willkürlicher Komplexität entstand. Wie schwankende Felsnadeln, Millionen Jahre alte Säulen aus verwittertem, erodiertem Gestein, bewachten sie das schmale Tor zum offenen Meer. Unterhalb davon sah sie, immer wieder verschwimmend, drei weitere Boote ins Innere der Seemauer einfahren. Von einem Turm löste sich wie eine dicke Träne ein Passagierluftschiff. Die gedrehten Leinen, von denen die Gondel gehalten wurde, funkelten im Licht der aufgehenden Sonne. Naqi erspähte auch das elegante deltaförmige Shuttle der Stimme des Abends, aber es war immer noch fest an seinem Anlegeplatz vertäut.
    Sie sah sich nach dem Knoten um, vor dem Weir gezögert hatte.
    Dort tat sich etwas.
    Der Knoten war in der letzten Minute sehr viel aktiver geworden. Er glich einer schroffen grünen Vulkaninsel, die von einem Erdbeben erschüttert wurde. Ein Zittern durchlief die Masse, sie schwankte hin und her und ließ ein unheimlich rhythmisches Pochen hören. Ringförmige Wellen durchliefen rasend schnell nach allen Seiten das Wasser, erfassten das dahinschießende Boot und ließen es heftig schwanken. Naqi drosselte die Geschwindigkeit. Eine innere Stimme sagte ihr, die Verfolgungsjagd sei zwecklos geworden. Sie wendete, bis der Bug genau auf den Knoten gerichtet war, und fuhr vorsichtig näher heran. Das Boot kämpfte sich wie eine Berg- und Talbahn durch die Wellen. Ihr Magen rebellierte, aber sie achtete nicht weiter darauf.
    Wie alle Knoten, so hatte auch dieser bisher eine reich gegliederte Oberflächentopologie gezeigt: Hügelchen und Fadengespinste, bizarre Türmchen und Kuppeln und unordentlich übereinander geschichtete organisierte Biomasse, alles verbunden, ja vernetzt durch ein System von schwebenden Ranken, die bis zum Wasser hinunterreichten. Man fühlte sich an eine menschliche Stadt erinnert – genauer gesagt, eine menschliche Märchenstadt unter einer grünen Moosdecke. Die Sprites schossen wie bunte Punkte durch die Zwischenräume, Bullaugen und Arkaden der Stadtlandschaft. Das Gesamtbild spiegelte nur andeutungsweise die noch komplexere innere Architektur wider, die zumeist allenfalls zu erahnen oder gar nur zu erschließen war.
    Doch nun benahm sich der Knoten wie eine Stadt, die dabei war, den Verstand zu verlieren. Umgestaltungs- und Erneuerungszyklen folgten in geradezu ungebührlichem Tempo aufeinander. Vor Naqis Augen entstanden immer neue Strukturen. Sie hatte ähnlich rasante Veränderungen beobachtet, bevor Mina verschlungen wurde, aber normalerweise nahm man diese Entwicklungen gar nicht wahr, sie vollzogen sich so langsam, wie die Schatten im Laufe eines Tages über den Planeten wanderten.
    Das Pochen hatte nachgelassen, doch dafür erzeugte der rasche Wechsel einen gleichmäßig warmen, übel riechenden Wind. Und als sie das Boot anhielt -sie wagte nicht, noch näher heranzufahren –, hörte sie die Stimme des Knotens wie das Rascheln unzähliger Blätter in einem Wald vor einem Sommergewitter.
    Was immer hier geschah, war auf dem besten Wege, sich zu einer Katastrophe auszuwachsen.
    Irgendeine grundlegende Organisation hatte versagt. Die Veränderungen gingen zu schnell und waren nicht ausreichend koordiniert. Fäden peitschten ziellos umher, ohne eine Verbindung herstellen zu können, oder schlugen gegeneinander. Wo sich Strukturen bildeten, brachen sie gleich wieder zusammen. Der Knoten zerfiel in drei, vier, vielleicht sogar fünf Zentren überschießenden Wachstums. Sobald sie einen Vorgang verfolgen konnte, war schon wieder alles vorbei. Im Innern der krampfhaft zuckenden Masse flackerte es unruhig. Sprites stoben wild durcheinander oder umkreisten blind willkürlich gewählte Punkte. Die Stimme des Knotens klang nun wie ein fernes Kreischen.
    »Er stirbt …«, hauchte Naqi.
    Weir hatte ihm irgendetwas angetan. Sie hatte keine Ahnung, was es war. Aber das konnte kein Zufall sein.
    Das Kreischen erstarb.
    Der Wind legte sich.
    Die Zuckungen hatten aufgehört. Sie beobachtete den Knoten in der verwegenen Hoffnung, die von Weir eingeleitete Destabilisierung könnte zum Stillstand gekommen sein. Die Strukturen waren immer noch grässliche Zerrbilder ohne jeden Zusammenhang, aber die Stadt war nicht mehr aktiv. Die Sprites kreisten langsamer, und einige sanken auf die Masse hinab wie Vögel, die sich zur Ruhe begaben.
    Tiefe Stille war eingekehrt.
    Doch dann ließ sich ein neues Geräusch vernehmen, leiser als alles andere vorher – fast unterhalb der

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