Rhosmari - Retterin der Feen
stolz auf sie gewesen, weil sie sein Vermächtnis fortsetzte, aber er hatte sie auch gelehrt, wie der Tod aussah und was es hieß, zu trauern. Konnte sie wirklich stundenlang draußen auf einem Ast stehen und zusehen, wie Feen, die sie kannte, verwundet oder sogar getötet wurden, ohne selber zusammenzubrechen oder sich abzuwenden? Und wenn ja, was sagte das dann über die Person, die sie geworden war?
»Wissen in eine Kapsel füllen«, murmelte Linde andächtig, als sie die Bibliothek mit Rhosmari verließ. »Davon habe ich noch nie gehört. Hat dein Volk das erfunden oder …«
»Vorsicht!«, rief eine Stimme im Gang hinter ihnen. Die beiden sprangen zur Seite und ein grell leuchtender Komet sauste an ihnen vorbei. Geblendet hob Rhosmari den Arm vor die Augen. Der Zauber explodierte …
Eine Hand packte sie an der Schulter, wirbelte sie herum und drückte sie in eine dunkle Ecke. »Rühr dich nicht von der Stelle«, befahl Rob knapp. »Sie darf dich nicht sehen. Bleib du bei ihr, Linde.« Er verwandelte sich in einen Fuchs und rannte der Gefahr entgegen. Im Zickzack wich er einem Zauber nach dem anderen aus.
»Wer ist ›sie‹?«, flüsterte Linde und klammerte sich an Rhosmaris Arm fest. »Doch wohl nicht …?«
Weitere Feen rannten an ihnen vorbei, darunter Broch und Llinos. In einiger Entfernung hörte man Geschrei und Rufe, gefolgt von einer dumpfen Explosion und weiteren grellen Lichtblitzen. Dann endlich kehrte wieder Stille ein.
Rob tauchte als Erster wieder aus dem Rauch auf. Er sah erschöpft aus. Sein Gesicht war voller Ruß, sein Mund ein bitterer Strich. »Sie konnte fliehen«, sagte er.
»Wer?« Linde eilte zu ihm. »Wer konnte fliehen?«
Rob nahm sie in die Arme und senkte das Gesicht in ihre Haare. »Malve. Wer sonst?«
Rhosmari atmete scharf ein. »Aber ihre Zelle war doch abgeschlossen und zusätzlich durch Zauber geschützt.«
»Schon.« Rob richtete sich auf und ließ Linde sichtlich widerstrebend los. »Eigentlich ja, wenn nicht jemand geschlampt hat. Wo ist Garan? Er wollte die Aufrechterhaltung des Zaubers organisieren und müsste wissen, wer heute dafür zuständig war.«
»Ich suche ihn«, sagte Rhosmari und eilte die Treppe hinauf.
»Garan?«
Rhosmari klopfte einige Male an seine Tür, bekam aber keine Antwort. Sie drückte die Klinke in der Erwartung, dass die Tür abgeschlossen sein würde – aber sie ging auf und dahinter kam Garan zum Vorschein. Seine Haare waren zerzaust und er versuchte mühsam aufzustehen. Seine Augen waren halb geschlossen, sein Gesicht benommen.
»Alles in Ordnung?«, fragte Rhosmari. Garan schwankte und sie stützte ihn.
»Ich … ja, ich glaube schon«, murmelte er. »Ich habe mich nur einen Moment gesetzt … wenigstens glaube ich das … ich muss eingeschlafen sein.«
Er war also nicht verletzt, sondern nur erschöpft. Kein Wunder nach all dem Druck, unter dem er gestanden hatte. »Malve konnte fliehen«, sagte Rhosmari. »Rob will wissen, wer heute für den Abwehrzauber um ihre Zelle zuständig war.«
»Fliehen?« Alarmiert fuhr Garan hoch. »Aber das ist unmöglich. Lily hat den Zauber erst heute Morgen erneuert. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Malve konnte nicht aus ihrer Zelle ausbrechen, es sei denn …«
Die Farbe wich aus seinem Gesicht und er griff nach dem Beutel an seinem Gürtel. Rhosmari stockte der Atem, doch dann seufzte Garan erleichtert und hielt den weißen Stein hoch, den sie beide so gut kannten, den Namensstein. »Ich habe schon befürchtet … ich muss geträumt haben. Was sagte ich eben?«
»Malve hätte nicht allein fliehen können. Glaubst du, jemand hat ihr geholfen?«
»Ich fürchte ja. Vielleicht jemand aus der Küche, der so dumm war, sich von ihr einschüchtern oder bestechen zu lassen. Aber wir haben jetzt keine Zeit, das aufzuklären. Ich muss sofort Königin Baldriana informieren.« Er wandte sich zum Gehen, zögerte aber und drehte sich noch einmal um.
»Was ist?«, fragte Rhosmari.
Garan nahm ihre Hände. »Ich weiß, dass du Gewalt ablehnst«, sagte er leise. »Aber du gehörst du unseren besten Bogenschützen. Wenn du dir nun vorstellst, dass du kämpfst, um Leben zu retten, nicht um zu töten … Es wäre mir eine Ehre, dich in meine Kompanie aufzunehmen.«
Er hatte die Augen seiner Mutter und Rhosmari spürte einen Kloß im Hals, als sie daran dachte, wie Lady Arianllys bei ihrem Abschied geweint hatte. Garan hatte Familie und Heimat verlassen, um gegen die Kaiserin zu kämpfen, und würde
Weitere Kostenlose Bücher