Richard Dübell
Gegensprechanlage verzerrte alle Stimmen zu einem blechernen Geschepper, aber Peter konnte ganz klar erkennen, dass es Flora und Harald Sander waren, die sich dort unterhielten.
Die sich stritten, um es genau zu nehmen.
»Fick dich selber, du Arschloch, und zieh Leine«, war die jugendliche Stimme abermals zu vernehmen.
»Julia?«, fragte Peter und räusperte sich verlegen. »Äh … hier ist Peter Bernward …«
»Peter!« Floras Tochter hörte sich erfreut an. »Warum sagst du denn so lange nichts?«
»Hab ich doch«, log Peter. »Hast du mich nicht gehört?«
»Das Mistding ist schon wieder kaputt«, sagte Julia. »Nichts funktioniert hier! Erst letztes Jahr ist der Aufzug mal eine ganze Stunde lang nicht gegangen!«
Peter hörte das Klicken, mit dem sie den Hörer der Gegensprechanlage einhängte. Das Summen des Türöffners ertönte, und er betrat das Haus.
Während er mit dem Aufzug nach oben fuhr, wurde ihm unangenehm bewusst, dass die drei Menschen in Floras Wohnung eine Familie waren. Mochten Flora und Harald auch geschieden sein, durch Julia waren sie miteinander verbunden, und dies war eine Verbindung, die immer bestehen würde. Und was war er, Peter? Ein Eindringling, weiter nichts.
Er sagte sich, dass seine plötzliche Mutlosigkeit von dem Mord kam, den sie heute entdeckt hatten, und von dem Gefühl, versagt zu haben, als er Blofeld unerkannt an sich hatte vorbeischlendern lassen. Aber das machte die Gewissheit, die er auf einmal verspürte, nämlich dass er und Flora niemals zusammenkommen würden, nicht weniger bitter. Wahrscheinlich wäre er wieder mit dem Aufzug nach unten gefahren und grußlos gegangen, wenn Julia nicht schon im Flur des obersten Stockwerks auf ihn gewartet hätte.
»Hi«, sagte sie und umarmte ihn stürmisch, bevor Peter wusste, wie ihm geschah.
Peter hatte sich, seit er Floras Tochter zum ersten Mal gesehen hatte, gefragt, wie Mutter und Tochter so unterschiedlich aussehen konnten und nach wem Julia wohl geraten war. Nun, da er Harald Sander kannte, wusste er es. Hinter Julias pausbäckig-weichen Zügen konnte man Harald Sanders gutgeschnittenes Gesicht erkennen und seine athletische Figur in Julias eher stämmigem Körperbau. Julia hatte rein gar nichts von Floras herber, schlanker, hochgewachsener Schönheit. Dennoch würde sie eine attraktive Frau sein, wenn die letzten Jahre der Pubertät sie streckten und die Babyspeckreste aus ihren Zügen und von ihren Hüften verschwunden wären.
»Hi«, sagte Peter und umarmte Julia ungeschickt.
»Ich dachte, das wäre irgend so ein blöder Klingelstreich«, sagte Julia.
Peter wies auf die Wohnungstür am Ende des Gangs, die Julia offen gelassen hatte. »Ich störe, oder?«
»Stör ruhig, dann hören sie vielleicht auf, sich zu streiten«, sagte Julia und seufzte.
Peter war in seinem Verhältnis zu Floras Tochter nicht frei von Ratlosigkeit. Als er sie kennengelernt hatte, hatte sie ihn gesiezt, aber er war sich seltsam vorgekommen, von der Tochter der Frau, zu der er mit jedem Tag, an dem er mit ihr zusammenarbeitete, eine größere Zuneigung empfand, förmlich und distanziert angesprochen zu werden. Also hatte er sie gebeten, ihn zu duzen, und Julia hatte das Angebot angenommen und ihn von da an behandelt, als würden sie sich seit Ewigkeiten kennen. Er hatte nie versucht, den Vater zu ersetzen, der sich aus Julias Leben verabschiedet hatte, als sie noch ein Kind gewesen war; in Wahrheit war seine ganze Aufmerksamkeit auf Flora konzentriert gewesen, und Julia hatte einfach irgendwie zu ihr gehört. Vielleicht bestand der Grund für Julias unerschütterliche Zuneigung zu ihm in der Tatsache, dass er sie einfach genommen hatte, wie sie war, und nie versucht hatte, sich anzubiedern. Falls er sich richtig verhalten hatte, war es nicht mit Bedacht geschehen, aber das Ergebnis war, dass Julia jetzt vor ihm stand und seine Hände festhielt und mit einer Kopfbewegung zur offenen Tür murmelte: »Mama spuckt Feuer, weil ich ihr nie gesagt habe, dass Papa und ich schon seit zwei Jahren Mailkontakt haben. Komm mit rein, wenn du da bist, beruhigt sie sich vielleicht. Wenn ich meinen Papa schon mal hierhabe, hätte ich gerne, dass er nicht die ganze Zeit angeschrien wird …«
»Dein Vater hätte es ihr auch sagen können …«
»Er sagt, dann hätte sie es ihm verboten.«
»… und ich glaube nicht, dass Flora sich beruhigt, wenn ich ausgerechnet jetzt auftauche.« Peter ließ Julias Hände los. »Ich geh wieder – ist
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