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Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische

Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische

Titel: Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Absprungrampe aus dem schrägen Wiesengrundstück herausstand, schlüpfte er aus seinem Sakko und warf es sich um die Schulter. Ein erster Anflug von Klebrigkeit, dieses unangenehme Gefühl, Honig zu schwitzen, hatte sich seiner bemächtigt. Er ging einmal um das Gebäude herum, dessen Einfachheit ideenlos wirkte: Mauern mit Dach. Dazu eine Terrasse, auf der absolut nichts stand. Aber hinter der großen Scheibe zeichnete sich undeutlich eine minimale Bewegung ab.
    Lukastik kehrte zum straßenseitigen Eingang zurück, wo Sternbach wartete und eine Spur hilflos wirkte, so ganz ohne die Nähe seines Friseurladens. Er war einer von diesen Menschen, die außerhalb ihrer Wirkungsstätte geradezu verblühten.
    »Was jetzt?« fragte Sternbach müde.
    »Wir gehen hinein«, sagte Lukastik. »Was dachten Sie denn?«
    »Ohne Schlüssel?«
    Unbeeindruckt trat Lukastik an die Tür heran und klingelte. Eine junge Frau öffnete, eine von diesen Fünfundzwanzigjährigen, die wie achtzehn aussehen. Vielleicht war es auch umgekehrt. Das ist ja oft eine Frage des Lichteinfalls oder einer bestimmten Mimik. In den Jahren nach der Pubertät sind viele Menschen wie Tiere und Pflanzen, die im Wind oder Licht oder Wasser oder auch bei Gefahr ihre Gestalt maßgeblich verändern. Jedenfalls handelte es sich hier um eine schlanke, ja dünne Person, deren blanker Bauchausschnitt zwischen dem Saum von Jeans und Shirt in der Art einer frei schwebenden, hellen Scheibe das Körperzentrum bildete. Sie besaß halblanges, rot und schwarz gesträhntes Haar, das an einigen Stellen schräg in die Höhe stand, dann wieder der Form des Kopfes folgte. Dazu trug sie ein kleines, spitzes Gesicht, ein Nichts von Mund und ein Nochweniger an Nase. Ihre Augen aber bildeten eine weite Öffnung, in welcher freilich nicht viel mehr zu erkennen war als ein Ausdruck von Langeweile. Indem sie ihren Mund öffnete, schien eine winzige Hülle zu platzen. Sie sagte: »Er ist nicht da.«
    »Ja. Ich weiß«, gab Lukastik zurück und trat an der Frau vorbei ins Haus. Er mußte sie nicht etwa zur Seite drängen. Es war genügend Platz vorhanden.
    »Sie können doch nicht  …«
    »Polizei«, sagte der nachfolgende Sternbach und verwies dabei natürlich auf Lukastik. Doch weil ihm nichts weiteres über die Lippen kam, klang es so, als sei auch er selbst Polizist. Einen Moment genoß er dies sogar, genoß das bißchen Macht, das genaugenommen im »Recht auf Überfall« besteht. Und als er es nicht mehr genoß, war das Mädchen längst dazu übergegangen, Lukastik nachzugehen.
    Selbiger hatte sich in einen großen Wohnraum begeben, der auf jene leere Terrasse wies. Auf den geschlossenen Scheiben zeichneten sich die Schmier- und Tropfenspuren von Dreck ab. Der Raum selbst jedoch wirkte sauber und ordentlich. Auf der einen Längsseite waren Kante an Kante beschriftete Papiere mit Reißnägeln aufgesteckt, welche beinahe die gesamte Wand ausfüllten.
    Lukastik war sofort an diese Fläche herangetreten, in deren Angesicht er nun seinen Kopf in alle Richtungen schwenkte. Zweifellos handelte es sich hierbei nicht um originale Schriftstücke, sondern um Faksimiles. Anders wäre es nicht begreiflich gewesen, daß ein jedes Exemplar mit roten und blauen Anmerkungen vollgekritzelt war, beziehungsweise ein Meer von grünen Leuchtstreifen die Seiten untereinander verband und den Eindruck eines chaotischen Wegenetzes hervorrief.
    Sämtliche dieser Kopien stellten die letzte oder einzige Seite eines Briefes dar, was mit sich brachte, daß auch ein jedes Blatt über eine Unterschrift verfügte. Berühmte Leute befanden sich darunter. Lukastik entzifferte Namen wie Weinheber, Galsworthy, Thatcher, Meinhof, Max Ernst und Konrad Lorenz. Stieß aber auch auf Namen, die ihm gar nichts sagten oder scheiterte an den graphischen Aufblähungen einiger Signaturen.
    Auf den ersten Blick erschien es ihm – so dicht war das Netz –, als sei ein jedes Blatt mit einem jeden anderen durch wenigstens eine Linie verbunden, wobei die Enden dieser Verbindungsstrecken mit Ringen ausgestattet waren, welche einzelne Buchstaben oder auch ganze Wörter umschlossen. Die zusätzlichen, mit rotem oder blauem Stift vorgenommenen Anmerkungen und Randnotizen waren winzig und kaum zu lesen. Mit gutem Grund ging Lukastik davon aus, daß es sich dabei um Oborins eigene Schrift handelte. Auch stellte er nun mit einiger Freude fest, daß sich unter diesen faksimilierten Briefen einer aus der Feder Ludwig Wittgensteins befand,

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