Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische
jenes berühmte und von Lukastik sofort erkannte Schreiben, das an Ludwig von Ficker gerichtet war und die Bemerkung beinhaltete, daß der Tractatus aus zwei Teilen, dem geschriebenen und dem nicht geschriebenen bestehe, wobei gerade dieser zweite, dieser nicht geschriebene Teil, der wichtigere sei.
Genau dieser Satz hatte Lukastik schon früh zu der Anschauung verführt, daß auch ganz grundsätzlich das nicht gelebte Leben das eigentlich bedeutende und wesentliche sei. Daß ein jeder Mensch sich primär durch jene Dinge auszeichnen würde, die er nicht tat. Und somit der Wert des einzelnen, sein Charakter, seine Persönlichkeit allein in seinen Unterlassungen zum Ausdruck komme. So war es beispielsweise für Lukastik in keiner Weise von Bedeutung, ob jemand besonders gut oder schlecht, besonders schnell oder langsam Ski fuhr, sondern es zählte einzig der Umstand, daß diese Person überhaupt nicht Ski fuhr. Daß sie konsequent darauf verzichtete, die Idiotie zu begehen, sich ohne Not über Schnee zu bewegen. Ein solcher Verzicht brauchte und sollte eigentlich gar nichts mit moralischen Begründungen zu tun haben – Umweltschutz et cetera –, sondern eine Folge ästhetischer, also ethischer Überlegungen darstellen. Logischer Gefühle, wie Lukastik das ein wenig schwammig nannte.
Der Chefinspektor löste sich schweren Herzens vom Anblick des Wittgensteinschen Briefes, der ja auch die Empfehlung enthielt, Ficker solle bloß das Vorwort und den Schluß des Tractatus lesen. Darin sei alles gesagt. – Mein Gott, wie viele Bücher würden dank einer solchen Empfehlung gesunden.
Lukastik sah hinüber zu der Frau, die jetzt mit verschränkten Händen in der Mitte des Zimmers stand. Er klang wie ein melodisches Bellen, als er jetzt wissen wollte: »Wer sind Sie?«
»Ich bin hier gemeldet«, antwortete sie. »Ist doch nicht illegal. Oder?«
»Das war nicht die Frage«, betonte der Kriminalist, dessen sprachliche Abstammung, also sein Wienerisch, gleich einem fernen Echo seine Sätze milde verstärkte. Während die Frau über einen Akzent verfügte, der eine ungarische Herkunft nahelegte, ohne daß dies aus einer jeden Silbe herauszuhören war. In bezug auf Wittgenstein könnte man sagen, ihr Ungarisch wurde weniger durch das Gesagte hörbar als vielmehr durch alles, was sie nicht sagte.
Jedenfalls war es ein ungarischer Name, mit dem sie sich jetzt vorstellte: »Kosáry Esther.«
»Eine Freundin der Tochter?« riet Lukastik.
»Eine Freundin des Vaters, wenn das für Sie so wichtig ist.« Lukastik zog seine Lippen herunter und faltete seine Stirn.
»Sie halten mich wohl für vierzehn«, sagte Esther Kosáry. »Ich bin volljährig. Glauben Sie mir. Ich seh nur für diejenigen ein bißchen jung aus, die sich so was gerne vorstellen.«
»Ihr Alter kümmert mich nicht. Es ist Ihre Beziehung zu Herrn Oborin, die mich interessiert. Interessieren muß.«
»Warum das denn?«
Lukastik machte jetzt keine Faxen. Er sprach rasch: »Weil er tot ist. Ermordet wurde. Kann man so sagen.«
Im Gesicht der Frau passierte etwas, das wie der Ausfall von Strom war. Eine augenblickliche Unterbrechung, auf die nichts folgte. Zumindest nicht sofort.
Natürlich war Lukastik schon mehrmals gezwungen gewesen, eine solche Nachricht zu überbringen. Derartiges gehörte zu seinem Beruf, und im Grunde konnte er ganz gut damit leben. Nicht, weil er ein Sadist war. Vielmehr erkannte er, daß die meisten Hinterbliebenen sich zu einem Schock, einer Trauer geradezu zwingen mußten, als würde die Polizei einen solchen Schock und eine solche Trauer erwarten und verlangen. Jetzt einmal abgesehen davon, bei der toten Person handelte es sich um ein Kind. Die Eltern fielen zumeist aus dem gängigen Schema heraus. Eltern zerbrachen. Im Falle ermordeter Erwachsener aber ergab sich selten mehr als eine Kundgebung der Betroffenheit, welche Lukastik rasch zu unterbinden wußte.
Esther Kosáry jedoch stand da wie durchgeschnitten. Wie abgetrennt von sich selbst. Ihr Gesicht war nur noch ein unscharfer Fleck. Da war kein Platz für eine Träne oder einen Schrei. Da war für gar nichts Platz. Erst nachdem Lukastik ihr vorsichtig an die Schulter gefaßt hatte, wie um diese Schulter vor dem Abbrechen zu bewahren, hob die Frau den Kopf und betrachtete ungläubig den Chefinspektor. Dann sagte sie: »Ich hätte es tun sollen.«
»Was tun?« fragte Lukastik und zog seine Hand wieder zurück.
»Ihn töten. Tobias töten, bevor jemand anders dazu kommt, es zu
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