Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische
vorgetragene Kritik für ein großes Übel unserer Zeit. Buchkritik, Sportkritik, Politikkritik, das war für ihn Ausdruck des entfesselten Spießers, der sich an den Dingen rieb, anstatt sie zu bestimmen, zu benutzen oder sie außer acht zu lassen. Sich an den Dingen zu reiben, empfand er als vulgär, ja obszön. Kritik bestand in den Augen dieses Mannes darin, seinen nackten Hintern auf etwas zu setzen und sich dann darüber auszulassen, wie gemütlich oder ungemütlich es der nackte Hintern auf diesem Etwas habe. Weshalb er derartige Kommentare scheute, es also unterließ, sich etwa an der Rezeption über das Fehlen einer wichtigen englischen Tageszeitung zu mokieren oder den kümmerlichen Rest von Seife im Toilettenraum zu beklagen.
Er registrierte, er setzte Präferenzen, aber er vermied die Erregung. Und so verbrachte er – unbehelligt und ohne auch nur einmal in eine peinliche Situation geraten zu sein – seine Tage in den Lobbys der besseren Wiener Hotels, während er in den Nachtstunden sein bißchen Geld verdiente, das er vor allem in die eigene Hygiene und die Hygiene seiner Wäsche investierte. Womit er es verdiente, blieb sein Geheimnis. Und nie sah man ihn etwas essen. Manche Leute, heißt es, leben von Luft und Liebe. Er, so schien es, lebte von der guten Luft der Vestibüle.
An diesen längst aus den Augen verlorenen Mann mußte Lukastik nun denken, als er wieder in das angenehme Klima des Foyers eintrat und sich jenem kleinen, schwarzen Felsen näherte, welcher Esther Kosáry beherbergte. Sie schien nun tatsächlich eingeschlafen zu sein. Ein leichtes Schnaufen war zu hören. Ihr Mund bewegte sich, als flüstere sie.
Lukastik ließ die Ungarin schlafen und ging in einen Nebenraum, in welchem die Hotelbar untergebracht war, die weit weniger beeindruckend ausfiel als jene in Rolands Teich , allerdings einen durchgehenden, reinen Stil besaß. Was nicht nur bedeutete, daß die gesamte Einrichtung harmonierte, auch der Barkeeper fügte sich makellos in das Ambiente ein. Alles sehr distinguiert. Dazu drang aus unsichtbaren Boxen leiser, sehr leiser Jazz. Mehr ein Hauch von Jazz.
Der Barkeeper in schwarzer Uniform mit goldenen Knöpfen begrüßte Lukastik mit einem kurzen Blick und Nicken. Offenbar hielt er es für unangebracht, auch noch seinen Mund zu öffnen. Ein Mann sparsamer Gesten. Gleichzeitig mit dem Nicken legte er seine beiden Hände auf die metallene Platte der Theke, manikürt, unberingt, feingliedrig, sein wichtigstes Werkzeug offenbarend.
Gerne hätte Lukastik eine Getränkekarte studiert. Aber es war nirgends eine zu sehen. Möglicherweise gehörte es zum Distinguierten dieses Ortes, von sich aus zu wissen, was man wollte. Ohne deshalb aufwendige Erörterungen vornehmen zu müssen. Oder sich gar um die Preise zu kümmern. Lukastik jedoch blieb unentschlossen. Die langen Reihen der Flaschen verstörten ihn. Das Gewicht der Etiketten. Die Verdoppelung in Folge des rückseitigen Spiegels, der jede Flasche wie mit seinem zwillingshaften Duellanten präsentierte. Der Glanz polierter Gläser. Die geschliffenen Ränder der Regale. Der Hauch von Jazz.
Lukastik bestellte einen Kaffee. Originell war das nicht. Der ohnehin steife Barkeeper schien weiter zu erkalten. Er nickte nicht einmal mehr und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen, mit dem Unmut eines Prosaisten, den man zwingt, lyrische Werbetexte zu verfassen.
Lukastik bewegte sich in eine hintere Ecke des Raums, weg von der Theke und weg von den anderen beiden Gästen, einem älteren Ehepaar, das vor rubinroten Likörgläsern saß und sich auf eine Weise unterhielt, die den weichen Klang der Musik noch unterbot.
Lukastik wartete ab, bis er seinen Kaffee serviert bekommen hatte, dann griff er nach dem Handy und wählte die Nummer seines Vorgesetzten.
»Wo sind Sie?« fragte Major Albrich, grundlos, aber wahrscheinlich voll böser Ahnungen.
Während Lukastik eine von den Ipso-Facto-Tabletten in sein Wasserglas gleiten ließ und nun zusah, wie es eine gelbliche Färbung verursachte, beschrieb er dem Major, wo er sich gerade befand. Und weshalb.
»Unglaublich«, sagte der Major, womit er ausnahmsweise nicht Lukastik, sondern das Verhalten Sternbachs meinte. »Was schlagen Sie vor?«
»Ich würde gerne auf eine Staatsaktion verzichten. Natürlich, wir müssen unsere Leute in Stellung bringen. Aber sie sollen auf Distanz bleiben. Sternbach wird nicht entkommen, weil er gar nicht entkommen will. So ist es doch fast immer. Die
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