Ringwelt 06: Flatlander
Offensichtliches.«
Nach der nachmittäglichen Sitzung kehrte ich in mein Zimmer zurück.
Das grelle, gnadenlose Licht des lunaren Mittags draußen vor meinem Fenster wurde von Filtern in der Scheibe ein wenig abgeschwächt, doch es war immer noch viel zu hell. Ich probierte Stimmbefehle aus, bis es mir endlich gelang, das Zimmer ein wenig stärker abzudunkeln.
Mittlerweile wäre ich dazu imstande gewesen, den schiefen Felsen auch in sturzbetrunkenem Zustand zu finden. Hundertneunzig Yards entfernt … Chris hatte in drei- oder vierhundert Metern Entfernung eine menschliche Gestalt gesehen, hinter dem schiefen Felsen. Ich blickte hinaus auf den Felsen und versuchte mir die Dunkelheit in Erinnerung zu rufen, die vor einer Woche geherrscht hatte, als Chris Penzler… was gesehen hatte?
Ein Abbild in einem Spiegel?
Die Entfernungen stimmten. Hundertneunzig Meter bis zum Felsen und dem Spiegel, der dagegenlehnte, weitere hundertneunzig Meter zurück. Chris hatte von drei- oder vierhundert Metern gesprochen. Ein weiterer Grund zu glauben, daß er einen Lunie gesehen hatte. Ein Lunie war größer als die Belter, an deren Anblick Penzler gewöhnt war. Deshalb hätte er sich bezüglich der Entfernung leicht verschätzen können: ein Lunie wäre ihm näher vorgekommen.
Er war nach draußen gegangen, um sich den Felsen selbst anzusehen. Hatte er gefunden, wonach er gesucht hatte, bevor jemand ihn gefunden hatte? Wahrscheinlich nicht: Er hatte uns ein weiteres Rätsel zurückgelassen, geschrieben mit gefrorenem Blut.
Alan Watson und ich hatten ebenfalls nicht viel herausgefunden …
Chiron meldete einen Anrufer.
Es war Boone. »Der Gerichtshof hat angeordnet, daß Mrs. Mitchison wiederbelebt wird«, verkündete er. »Sie ist bereits aus dem Kältetank und wird morgen gegen Mittag nach Hovestraydt City zurückgebracht. Man hat mir mitgeteilt, daß sie sich über Nacht im Kopernikus-Hospital erholen müsse.«
Warum denn das? Aber egal: Sie war draußen, daß war es, was zählte. »Ist sie jetzt wach?«
»Ja. Ich habe bereits mit ihr gesprochen.«
»In Ordnung, dann werde ich …«
»Bitte rufen Sie sie nicht an, Hamilton. Sie hat sehr müde geklungen. Sie wollte keine visuelle Übertragung.«
»Hmmm. Meinetwegen. Wie weit sind Sie mit Ihren Nachforschungen über die Appartements gekommen?«
Boone schenkte mir einen vorsichtig triumphierenden Blick. »Ich stieß auf ein paar Unstimmigkeiten in den Akten. Man hat Mrs. Mitchison ein Zimmer auf Ebene Zwo gegeben, weil der Computer glaubte, daß alle Zimmer auf der oberen Ebene belegt waren. Ich ließ mir einen Ausdruck geben, auf dem alle Bewohner aufgelistet sind, die zu diesem Zeitpunkt auf der Ebene residierten. Der Computer listet Zimmer Nummer siebenundvierzig weder als belegt noch als leer auf. Er hat es vollkommen ignoriert!«
»Haben Sie bereits versucht, einen Blick hineinzuwerfen?«
»Noch nicht. Dazu benötige ich einen gerichtlichen Durchsuchungsbeschluß.«
»Nein, brauchen Sie nicht. Lassen Sie Naomi um dieses Zimmer bitten. Falls jemand erschrickt, verrät uns das vielleicht mehr.«
Er grinste ganz und gar nicht wie ein Lincoln. »Das gefällt mir.«
»Schön. Und jetzt erzählen Sie jemandem davon, ja? Lassen Sie sich mit dem Richter verbinden, der mit der Revision von Naomis Fall beauftragt wurde, und erzählen Sie ihm von dem verschwundenen Zimmer. Erzählen Sie es meinetwegen, wem Sie wollen, aber erzählen Sie es.«
»Jetzt werden Sie aber dramatisch.«
»Sie wissen zu viel, um nicht in Gefahr zu sein. Wir haben es mit jemandem zu tun, der Ihr Zimmerschloß manipulieren kann. Machen Sie mir die Freude und tun Sie es einfach.«
»Also schön, Mister Hamilton.« Grinsend unterbrach er die Verbindung.
Ich trat zurück ans Fenster.
Ein Spiegel konnte einen Laserstrahl nur für einen kurzen Augenblick reflektieren. Es gibt keinen Spiegel, der einen Lichtstrahl zu hundert Prozent reflektiert. Sobald ein Laser auf die Spiegeloberfläche aufträfe, würde diese zu verdampfen beginnen, ein Loch würde sich bilden, die konkave Fläche würde den Strahl defokussieren … Und genau das war auch geschehen!
Aber wohin war der Spiegel verschwunden?
Der gesamte Fall war überladen mit klassischen Elementen. Ein verschlossener Raum, wenn auch invertiert: der Attentäter war draußen auf der Oberfläche ausgesperrt gewesen. Eine rätselhafte Nachricht von einem Sterbenden. Und jetzt sah ich mich mit Spiegeltricks konfrontiert. Was würde als nächstes
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