Ringwelt 06: Flatlander
schwebenden Zigarette. Das ist viel typischer als mein Gesicht. Sehen Sie mich nicht so besorgt an. Wir haben Ihnen einen Tracer implantiert; wir können das Signal des Geräts überallhin verfolgen, wo auch immer Sie hingehen.«
»In mir?«
Er sah nicht viel beruhigter aus – war es wieder einmal zu intim? –, doch er machte keine weiteren Schwierigkeiten deswegen.
»Holden, ich frage mich immer wieder, was die Entführer mit Ihrer Schwester gemacht haben könnten …?«
Er unterbrach mich kalt: »Ich habe schon vor langer Zeit aufgehört, mir diese Frage zu stellen.«
»… das sie Ihnen nicht angetan haben. Es ist mehr als bloße Neugier. Wenn die Ärzte wüßten, was mit ihr geschehen ist … wenn sie wüßten, was in ihren Erinnerungen schlummert …«
»Verdammt, Hamilton! Glauben Sie vielleicht, daß ich ihr nicht helfen will? Sie ist meine Schwester!«
»Schon gut.«
Was mußte ich auch den Psychotherapeuten spielen! Oder spielte ich vielleicht nur Detektiv? Er wußte jedenfalls überhaupt nichts. Er befand sich im Auge gleich mehrerer Stürme auf einmal, und er mußte es allmählich wirklich leid sein. Vielleicht tat ich besser daran, ihn nach Hause zu schicken.
Noch bevor ich etwas sagen konnte, begann er zu reden. So leise, daß ich ihn kaum verstand: »Wissen Sie, was man mit mir gemacht hat? Ein Nervenblock im Nacken. Ein kleines Ding, das sie mit Pflasterband auf meine Haut gedrückt haben. Ich spürte unterhalb des Halses nichts mehr, und ich konnte nichts außer dem Kopf bewegen. Sie drückten mir das Ding auf die Haut, warfen mich auf ein Bett und ließen mich einfach liegen. Neun Tage lang. Hin und wieder nahmen sie mir das Ding ab, damit ich essen und trinken und auf die Toilette gehen konnte.«
»Hat irgendjemand ihnen gedroht, man würde Sie in Einzelteile zerlegen und Transplantate aus Ihnen machen, wenn das Lösegeld nicht bezahlt würde?«
Er dachte darüber nach. »N-nein. Aber das war auch nicht nötig. Ich konnte es mir ziemlich gut ausmalen. Sie redeten kein einziges Wort mit mir, die ganze Zeit über nicht. Sie behandelten mich, als sei ich tot. Sie untersuchten mich, sicher … es kam mir vor, als dauerte es Stunden. Sie tasteten mich ab, setzten ihre Instrumente ein, pieksten mich mit Nadeln und Sonden und drehten mich hin und her wie totes Fleisch. Ich spürte nichts von alledem, doch ich konnte alles sehen. Wenn sie das gleiche mit Charlotte angestellt haben … vielleicht glaubt sie, daß sie in Wirklichkeit tot ist?« Er wurde lauter. »Ich habe mir immer und immer wieder den Kopf darüber zerbrochen, mit den ARMs, mit Doktor Hartmann, mit der medizinischen Fakultät der Washburn University… Lassen Sie uns nicht mehr darüber reden, ja?«
»Selbstverständlich. Tut mir leid. In diesem Geschäft lernen wir keinen Takt, sondern Fragen zu stellen. Jede Art von Fragen.«
Und doch. Und doch, und doch, und doch … Dieser Ausdruck, mit dem Charlotte mich angesehen hatte.
Ich stellte ihm noch eine weitere Frage, während ich ihn nach draußen führte. Fast beiläufig. »Was halten Sie eigentlich vom zweiten Freezergesetz?«
»Ich habe noch kein Wahlrecht für die Vereinten Nationen.«
»Das habe ich nicht gefragt.«
Er blickte mich streitlustig an. »Sehen Sie, bei dieser Sache ist eine Menge Geld im Spiel. Eine ganze Menge Geld. Es würde für Charlotte bis an ihr Lebensende reichen. Ich hätte ein paar Sorgen weniger. Aber Hale, Levitikus Hale …« Er sprach den Namen korrekt aus, ohne die Spur eines Lächelns. »Er ist ein Verwandter von mir, oder vielleicht nicht? Mein Urgroßvater dritten Grades. Man könnte ihn eines Tages wieder zum Leben erwecken; das ist durchaus möglich. Was soll ich tun? Wenn ich wählen dürfte, müßte ich eine Entscheidung treffen. Aber ich bin noch keine fünfundzwanzig, und deswegen muß ich mir nicht den Kopf darüber zerbrechen.«
»Was ist mit Interviews?«
»Ich gebe keine Interviews. Sie haben soeben die gleiche Antwort erhalten wie alle anderen auch, Mister Hamilton. Ich hab’s auf Band gespeichert, auf meinem Anruf Computer Zero. Auf Wiedersehen, Mister Hamilton.«
Die anderen Abteilungen der ARM hatten uns in der lauen Zeit nach Inkrafttreten des ersten Freezergesetzes eine Menge Personal weggenommen. Im Verlauf der folgenden Wochen kam es nach und nach wieder zurück. Wir brauchten dringend Mitarbeiter, die uns halfen, Tracer in ahnungslose potentielle Entführungsopfer zu implantieren, deren Wohlergehen sie sodann
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