Riskante Nächte
Versicherungen zum Trotz war sie gewappnet gewesen, auf bittere Ablehnung zu stoßen. Stattdessen war sie mit unerklärlicher Begeisterung empfangen worden. Niemand schien auch nur im Geringsten bestürzt über den Tratsch von der angeblichen Liebschaft mit Anthony. Ebenso wenig zeigte sich irgendjemand schockiert von ihrer Karriere als Reporterin beim Flying Intelligencer. Ganz im Gegenteil. Mr. und Mrs. Stalbridge und Clarice waren durch und durch charmant und freundlich gewesen. Sie schienen eher fasziniert denn abgestoßen von Louisa.
Die Entdeckung, dass sowohl Mrs. Stalbridge als auch Clarice glühende Befürworterinnen der Reformkleidung waren, war eine weitere erfreuliche Überraschung gewesen. Andererseits, wieso hatte sie erwartet, dass Anthonys Familienmitglieder weniger unkonventionell wären als er?, überlegte sie. Emma hatte sie gewarnt, dass die Stalbridges allesamt als Exzentriker galten.
Trotzdem blieb sie natürlich vorsichtig. Angesichts ihrer dunklen Vergangenheit konnte sie es sich nicht erlauben, sich anderen zu sehr zu öffnen. Und dennoch war ihr Clarice auf Anhieb sympathisch. Es war so lange her, dass sie eine gleichaltrige Freundin gehabt hatte. Das Meer der Freundschaft barg für jemanden, der ein schreckliches Geheimnis in seinem Herzen trug, viele tückische Klippen und Untiefen, die es wachsam zu umschiffen galt.
»Wir sind so froh, dass Anthony Gefallen an Ihnen gefunden hat, denn wir haben uns schon solche Sorgen um ihn gemacht«, erklärte Clarice. »Im letzten Jahr, nach dem Tod seiner Verlobten, wurde es für ihn zu einer fixen Idee, an ihre Ermordung zu glauben. Es lastete ihm wochenlang auf der Seele. Am Ende hat er uns wirklich Angst gemacht, um ehrlich zu sein.«
»Tatsächlich.«
Clarice ließ geistesabwesend ihren Sonnenschirm kreiseln. »Wir dachten, er hätte es überwunden, nachdem er gezwungen war, seine Erkundigungen aufzugeben, doch als er plötzlich vor zwei Wochen seine Nachforschungen wiederaufnahm, erkannten wir, dass er immer noch steif und fest von Fionas Ermordung überzeugt ist. Dann haben wir die Gerüchte über Sie beide gehört. Mutter und Vater schöpften wieder Hoffnung und ich auch.«
»Gütiger Himmel.«
»Jetzt, wo wir Gelegenheit hatten, Sie beide zusammen zu sehen, ist es offensichtlich, dass die Gerüchte der Wahrheit entsprechen, und deshalb freut es uns so, heute Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben.«
»Ich bin nicht sicher, ob ich Ihnen ganz folgen kann«, erwiderte Louisa verhalten. »Meine Beziehung zu Ihrem Bruder beruht auf einem rein geschäftsmäßigen Arrangement. Wie er Ihnen bereits erklärte, helfe ich ihm bei seinen Nachforschungen. Sobald diese abgeschlossen sind, habe ich vor, einen Artikel für den Flying Intelligencer zu schreiben.«
»Ja, natürlich.« Clarice schenkte ihr ein warmherziges Lächeln. »Ich bin sicher, es wird ein ausgezeichneter Artikel. Aber es ist unübersehbar, dass Sie und Anthony ein inniges Verhältnis pflegen, und wir sind überglücklich. Es ist wunderbar zu sehen, dass er eine Frau so anschaut, wie er Sie anschaut.«
Louisa seufzte. »Sie befürchteten, Fionas Tod hätte ihm das Herz gebrochen. Und jetzt glauben Sie, er wäre zumindest willens, sich für eine andere Frau zu interessieren. Aber ich denke, Sie sollten nicht irgendwelche vorschnellen Schlüsse bezüglich der Natur seiner Gefühle für mich ziehen.«
»Unsinn.« Clarice lachte. »Es gibt keine andere Erklärung für seine gute Laune.«
»Vielleicht ist er dieser Tage fröhlicher, weil er denkt, er stehe kurz davor, das Rätsel um Fionas Tod zu lösen.«
»Das mag zum Teil stimmen, aber ich vermute trotzdem, dass Sie der vornehmliche Grund für seine gehobene Stimmung sind.«
»Ich kann Ihnen da wirklich nicht zustimmen«, widersprach Louisa kleinlaut.
»Ach, Mrs. Bryce. Sie stellen Ihr Licht unter den Scheffel. Ich versichere Ihnen, mein Bruder hätte Sie niemals zum Tee mitgebracht, wenn er nicht in Sie verliebt wäre.«
Louisa blieb abrupt stehen und sah Clarice entsetzt an. »Ich versichere Ihnen, Ihr Bruder ist nicht in mich verliebt.«
»Es ist schon gut, Mrs. Bryce. Sie müssen sich in dieser Familie nicht verstellen. Wir sind nicht wie die meisten Leute, die sich in den gehobenen Kreisen bewegen. In diesem Haus sind alle ziemlich freimütig.«
»Bitte nehmen Sie es mir nicht übel, aber all diese mitreißenden Stücke, die Sie für das Olympia-Theater schreiben, müssen Ihre Fantasie angeregt haben.«
Clarice
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