Riskante Naehe
Hause sowieso wieder vergessen hatte. Wenn sie nicht so bequem gewesen wäre, hätte sie sich vielleicht auch schon längst scheiden lassen.
Ruckartig hob sie den Kopf. Wo war dieser Gedanke hergekommen? Sie wollte nicht geschieden werden. Es ging ihr doch gut mit Paul. Er hätte vielleicht etwas aufmerksamer sein können, und an den letzten Sex mit ihm konnte sie sich schon nicht mehr erinnern, aber ihr Leben lief in ruhigen Bahnen. Liebte sie ihn noch, oder war es einfach nur noch Gewohnheit, die sie zusammenhielt? Sie wusste es nicht. Und das entsetzte sie wirklich. Vielleicht sollte sie in nächster Zeit einmal in aller Ruhe darüber nachdenken. Sie hatte bei ihren Eltern gesehen, wie es war, wenn man dreißig Jahre lang nebeneinander herlebte. Jeder hatte seinen eigenen Bereich und kümmerte sich nicht mehr viel um den anderen. Nur bei gesellschaftlichen Anlässen traten sie noch zusammen auf.
Und man merkte ihr und ihren beiden Geschwistern die Lieblosigkeit an, die sie zwischen ihren Eltern erleben mussten und die sich auf ihren Umgang untereinander übertragen hatte. Sie glaubte nicht, dass einer von ihnen wusste, was wirkliche Liebe überhaupt war. Auch untereinander gab es keine echte Beziehung, was sie sehr schade fand. Vielleicht war sie auch zu sensibel, aber sie wünschte sich trotzdem ein besseres Verhältnis zu ihrer Familie.
Als sie ihren Eltern damals erklärt hatte, dass sie studieren wollte, hatte ihre Mutter gemeint, sie solle doch lieber eine Ausbildung als Sekretärin machen. Nicht, dass Sekretärin kein ehrenhafter Beruf gewesen wäre, aber Karen wollte nun einmal etwas anderes machen. Auf das Verständnis ihrer Eltern zu hoffen, war vergebens gewesen, aber zum Glück hatte sie aufgrund ihrer guten Noten in Yale ein Stipendium bekommen. Daraufhin war sie nach New Haven, Connecticut, gezogen und hatte das erste Mal in ihrem Leben so etwas wie Freiheit verspürt. Sie hatte sich in ihren Studienfächern, unter anderem Technik und Computertechnik, so weit spezialisiert, dass sie bereits während des Studiums vom Pentagon für den Bereich Waffentechnologie angeworben worden war.
Sie blickte auf ihre Armbanduhr. Die U-Bahn müsste jede Minute eintreffen. Die Station war wie immer gut besucht. Sie schob sich durch die Menschenmassen und versuchte, einen Platz nahe der Kante zu erhaschen. Das leise Surren der Schienen kündigte bereits die Ankunft des Zuges an. Mit beiden Händen hielt sie ihre Umhängetasche an ihren Körper, damit sie ihr im Gedränge nicht abhandenkam. Schnell fuhr der Zug in die Station ein. Das Geschiebe wurde stärker. Das war jeden Tag die Situation, die ihr am meisten missfiel. Sie hätte natürlich auch weiter hinten stehen können, aber bei ihrer geringen Größe überfiel sie jedes Mal Platzangst, wenn sie in einer Menschenmenge stand und keine Luft bekam. So blieb ihr nichts anderes übrig, als ihr Körpergewicht dazu einzusetzen, sich gegen die drängenden Massen zu stemmen.
Auf einmal spürte sie einen starken Stoß im Rücken. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte mit einem Schrei auf die Gleise. Das Quietschen des Zuges, als der Fahrer eine Notbremsung einleitete, war ohrenbetäubend. Karen blickte auf und sah, dass der Zug bereits fast über ihr war. Menschen schrien, die Gleise vibrierten. Karen blieb keine Möglichkeit, dem Zug zu entkommen. So schnell es ging, rollte sie sich in die Mitte des Gleiskörpers und blieb dort, mit den Armen den Kopf bedeckend, regungslos liegen. Den Bruchteil einer Sekunde später fuhr der Zug über sie hinweg. Das Kreischen der Bremsen gellte in ihren Ohren, der Fahrtwind zerrte an ihren Haaren und ihrer Kleidung. Kleinere Gegenstände wurden hochgewirbelt und prasselten gegen ihre Arme. Dann wurde es dunkel um sie.
»Miss! Miss, hören Sie mich?«
Stöhnend öffnete Karen die Augen. Warum war es so dunkel?
»Ich sehe sie nicht. Siehst du etwas?« Verschiedene Stimmen sprachen miteinander. »Nein, nichts zu sehen.«
Karen versuchte etwas zu sagen, doch ihre Stimmbänder gehorchten ihr nicht. Nur ein leiser Kiekser kam heraus.
»Sie muss hier irgendwo sein, ich habe genau gesehen, dass sie direkt vor den Zug gefallen ist.«
Der Zug! Mit Grauen wurde sich Karen bewusst, dass sie unter einem Waggon liegen musste. Vorsichtig bewegte sie sämtliche Glieder. Sie taten zwar weh, aber es schienen noch alle vorhanden zu sein. Ein Licht bewegte sich langsam auf sie zu.
»Da ist sie, ich sehe sie!«
Karen bedeckte ihre Augen mit
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