Risotto Mit Otto
Berufschancen und war daher unumgänglich. Leicht fiel mir das alles ganz gewiss nicht.
Aber dass alte Leute, die sich nicht mehr richtig selbst versorgen konnten, allein und ohne die Unterstützung ihrer Angehörigen dahindarbten und die Nachbarn um Hilfe bitten mussten, das schockierte mich nachhaltig. Ich hatte auch schon mal gehört, dass nicht wenige Deutsche ihre Eltern mit Vorliebe in Altenheime abschoben, sobald sie ihnen zur Last fielen, weil sie der Meinung waren, sie hätten ein Recht auf ein unbeschwertes Leben. So etwas war in meiner Familie unvorstellbar. Allein der Gedanke daran, dass meine arme, liebenswerte nonna mit lauter alten, zahnlosen, verwirrten Menschen in einer mehr oder minder senilen Notgemeinschaft ihr Dasein fristen musste, ließ mich schaudern. Ich fühlte mich, genau wie meine Eltern, verpflichtet, ihr den Lebensabend so schön wie möglich zu gestalten und sie zu unterstützen, wo es nur ging. Schließlich war nonna auch immer für uns drei Mädchen da gewesen, wenn wir sie gebraucht hatten, und selbst im hohen Alter kochte sie noch regelmäßig für die ganze Familie oder verwöhnte uns mit ihren selbstgemachten pasticcini , um die wir uns beim Nachtisch immer prügelten. Nonna im Heim – niemals.
Auf einmal fiel mir auch wieder ein, was Vale damals nach ihrer Rückkehr aus München von der Oma ihrer Gastfamilie erzählt hatte. Die Ärmste war beim Fensterputzen in ihrer Wohnung gestürzt und mit einem Oberschenkelhalsbruch per Notarztwagen in die Klinik eingeliefert worden. Meine Freundin war völlig fassungslos gewesen, und ich gleich mit, da die Familie die frisch operierte Großmutter einfach im Krankenhaus alleine gelassen hatte. Wenn überhaupt, fuhr einmal am Tag jemand hin, um der Oma eine Zeitschrift oder einen Saft zu bringen, und meist blieb der Besuch nicht länger als eine halbe Stunde. »Wir können sowieso nichts für sie tun, die Verpflegung durch die Schwestern ist hier hervorragend«, hieß es dann. »Außerdem ist Krankenhausluft so deprimierend.« Ja, was sollte denn die arme Oma dazu sagen, die diese Luft vierundzwanzig Stunden am Tag einatmen musste?
In Italien lässt eine jede Familie, die etwas auf sich hält – und die anderen im Grunde auch –, ihren Patienten in einem Krankenhaus keine Sekunde alleine. Sobald jemand in die Klinik kommt, egal ob jung oder alt und mit welcher Malaise, sofort steht die komplette Verwandtschaft, nah wie fern, Gewehr bei Fuß und wechselt sich im Schichtbetrieb mit der Betreuung ab. Anwesenheit ist absolute Pflicht, und zwar für jeden, selbst den dreijährigen Enkel. Ausreden gibt es nicht, und meist reißen sich die einzelnen Familienmitglieder darum, Dienste zu schieben, natürlich auch wegen der bella figura, die man dabei macht. Allerdings geht es nicht nur darum, den Schwestern sämtliche kleineren Arbeiten, wie Tee holen, Toilettengänge, Waschen und dergleichen, abzunehmen, sondern vor allem um den moralischen Rückhalt für den Patienten. Schließlich soll der Kranke so schnell wie möglich wieder gesund werden, und wie soll das denn bitte schön gehen – ohne die famiglia ?
Beate, die aus dem Hof zurückgespurtet kam, unterbrach meine kritischen Betrachtungen über die deutschen Familien im Allgemeinen und Besonderen jäh. »Los, wir müssen uns beeilen, sonst fährt die S-Bahn ohne uns.«
Auf dem Weg zur Haltestelle überlegte ich, ob ich sie mit meinen Gedanken konfrontieren sollte, doch dann kamen wir an mehreren bunten, mit einem Pflasterstein beschwerten Kästen vorbei, in denen hinter einer Plexiglasscheibe eine zusammengefaltete Zeitung steckte, und meine Aufmerksamkeit richtete sich darauf. An der verlängerten Rückwand war jeweils ein Plakat mit einer Schlagzeile befestigt, und auf dem Kasten prangte der Schriftzug der jeweiligen Zeitung: BILD, Abendzeitung und tz, las ich, als ich neugierig näher ging, um die seltsamen Kisten genauer zu betrachten.
»He, ich sagte doch gerade, wir sind spät dran«, meinte Beate und zog mich am Ärmel. So dankbar ich gestern für ihre Pünktlichkeit gewesen war, so sehr fühlte ich mich nun davon unter Druck gesetzt. Was passierte denn schon, wenn wir die S-Bahn verpassten? Das geschah vermutlich einer Million Menschen auf der ganzen Welt Tag für Tag. Würde die Münchner Uni einstürzen? Ging es etwa um Leben oder Tod? Wohl kaum.
»Warte«, bat ich, denn ich hatte entdeckt, dass man die Kästen öffnen und die im Stapel darin liegenden Zeitungen
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