Rivalen der Liebe
daran, wie die Aufreißer sind, Liebling. Wir wissen beide, wie viele Probleme sie einer braven Frau bereiten können.
Roxbury macht auf mich allerdings den Eindruck, dass er mittlerweile reif genug sein könnte für eine Abkehr von seinem bisherigen Lebenswandel – nicht zuletzt in Anbetracht der neuerlichen Skandale um seinen Liebeswandel (die ich hier selbstredend nicht zu wiederholen brauche, denn du wirst bereits davon gehört haben) …
»Ich habe sie überhaupt erst in Gang gesetzt, die ganzen Gerüchte«, murrte Julianna. Es stand für sie nicht zur Debatte, ihrer Mutter von ihrer Arbeit zu erzählen. Diese Frau konnte einfach kein Geheimnis für sich behalten, selbst wenn das Schicksal Englands davon abhinge. Außerdem fürchtete Julianna, das Herz ihrer Mutter könne – wörtlich gesprochen – vor Stolz über die Tochter platzen, wenn sie wüsste, unter welchem Pseudonym Julianna arbeitete.
Sie las noch einmal die Zeile, der zufolge Roxbury »reif für eine Abkehr von seinem bisherigen Lebenswandel« sein sollte, und befand, dass ihre Mutter nach so vielen Jahren in ihrem Schlafgemach vielleicht doch ein bisschen verrückt geworden war. Der Mann war ungefähr genauso bereit, seinen Lebenswandel zu ändern, wie ein wilder Bulle …
Ihre Mutter schrieb außerdem über Baron Pinner, der seiner Lady herrliche Blumensträuße schicken ließ. Von Lord Brookes erzählte man sich, dass er die Affäre mit Jocelyn Kemble angeblich beendet habe, nachdem herausgekommen war, dass sie Roxburys Liebschaft in Hosen hinter der Bühne gewesen war. Der alte Earl of Selborne sei kürzlich an einer geheimnisvollen Krankheit erkrankt. Und schließlich habe Lord Wilcox erst letzten Dienstag völlig betrunken lautstark verkündet, er »teile das Bett mit einer Frau, von der England es zuletzt erwarten würde«.
Julianna legte den Brief beiseite, um ihn in ihrer nächsten Kolumne zu verwerten. Sie beschloss, die ganzen Einladungen und die Korrespondenz für den Moment zu ignorieren.
Eine melancholische Stimmung ergriff Besitz von ihr und legte sich wie dichter Nebel auf ihr Gemüt. Nach einem so aufregenden und abenteuerlichen Nachmittag mit Roxbury in ein verwaistes, stilles Haus zurückzukommen, trug vermutlich die Schuld an ihrer schlechten Laune.
Es war noch gar nicht lange her, da hätte Sophie sich zu Julianna aufs Sofa gesetzt und sie über ihre Erlebnisse ausgefragt. Sie hätten Tee miteinander getrunken und munter miteinander geplaudert. Aber jetzt war das Zimmer ordentlich aufgeräumt, und es gab keine Plauderstunden mehr, weil Sophie bei ihrem Mann in einem riesigen Haus drüben in Mayfair lebte, im Zentrum der besseren Gesellschaft. Julianna lebte allein in Bloomsbury, wo sich vor allem die Akademiker niederließen.
Warum hatte Roxbury nicht versucht, sich bei ihr Freiheiten herauszunehmen? Warum wollte er nicht mit ihr ins Bett?
Julianna glaubte die Antwort zu kennen: Weil sie verbittert war, ganz einfach. Aber sie war doch attraktiv! Was hinderte ihn also daran?
Die Tatsache, dass sie ihn langweilte?
Dass sie eine Klatschkolumnistin war, die theoretisch jedes intime Detail in ihrer Kolumne verwerten konnte?
Dass sie immer alles besser wusste?
Oder war es einfach nur so, dass sie eben nicht die Art Frau war, bei der ein Mann sich Freiheiten herausnahm?
Früher war sie jedenfalls so eine Frau gewesen. In jenen frühen Tagen ihrer großen Liebe mit Somerset hatte sie mehr als nur einen angemessenen Teil verbotener Küsse von diesem attraktiven Charmeur bekommen. Aber warum wünschte sie sich jetzt seit langer Zeit wieder, mehr vom Leben erwarten zu dürfen?
Warum ertappte sie sich immer wieder dabei, wie sie sich Tagträumen über den Kuss mit Roxbury hingab? Julianna erinnerte sich noch lebhaft an alles: An den silbrigen Schimmer des Monds, den Duft der Orangenblüten und den Stoff seines Hemds, an das sie sich klammerte. Und an die besonders delikaten Details, bei deren Erinnerung sie unwillkürlich errötete: Die Wärme seines Munds, der sich auf ihren drückte, die breite, warme Muskelmasse seiner Brust unter ihren Händen und seine starken Arme, die sie festhielten. Wie das heiße, wilde Verlangen sie bei dieser Erinnerung durchfuhr und nach Erleichterung verlangte.
Aber es war doch nur ein Kuss gewesen!
Eins stand für Julianna jedenfalls fest: Sie konnte es sich nicht leisten, eine zweitklassige Kolumne abzuliefern. Nicht, nachdem Jocelyn sich dem Mann, der Bescheid weiß, offenbart hatte.
Weitere Kostenlose Bücher