Roberts Schwester
zweimal pro Woche mindestens. Und er blieb meist über Nacht. Dann lag ich in meinem Bett und wurde vor Schmerzen halb wahnsinnig. Am nächsten Morgen fuhr ich zu Piel und bettelte um Cliradon. Nach einem wohlmeinenden Vortrag bekam ich ein Rezept für ein anderes, wirkungsloses Mittelchen in die Hand gedrückt. Und zum Abschied wieder den Rat, dass ich mich von Robert lösen, dass ich ihn freigeben müsse für ein eigenes Leben. Piel fand es nicht weiter tragisch, dass mein Bruder sich mit einer Nutte eingelassen hatte. Wenn man ihn ein wenig ausnehmen sollte, es träfe doch keinen armen Mann. Am sinnvollsten sei es, Robert seine trübe Erfahrung allein machen zu lassen, wenn er ohnehin taub geworden wäre für meine Warnungen. Ich selbst könne daraus ebenfalls eine wichtige Erkenntnis gewinnen, meinte Piel. Als ich mit siebenundzwanzig Jahren zum ersten Mal bei ihm in Behandlung gewesen war, hatte er mir ausführlich erklärt, meine Liebe zu Robert sei genau genommen eine ausgeprägte Hassliebe. Ich hätte meinen Bruder vom Tag seiner Geburt an beneidet, weil er all das besaß, was es für mich nicht gab und niemals geben konnte. Eine Mutter, die stets für ihn da war, nie ein lautes oder gar böses Wort an ihn verlor, die ihn mit ihrer warmherzigen Art einhüllte und ihm all die Zärtlichkeit gab, die er brauchte, die ich weder von einer Mutter und noch von sonst jemandem bekommen hatte. Und einen Vater, der in seinem Stolz auf den wohlgeratenen Sohn zeitweise über jedes normale Maß hinausschoss und hundertmal am Tag die Vorzüge und den Wissensstand «seines Roberts»
herunterbetete, wobei er meine Existenz und meinen Anteil an Roberts Fortschritten geflissentlich übersah. Damit sei Robert für mich zu einem gnadenlosen Räuber geworden, meinte Piel. Er hätte mir mit seinem sanften Wesen – im übertragenen Sinne – die letzte Scheibe Brot aus der Hand gerissen und mich, obwohl er selbst im Überfluss lebte, am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Aber mein Stolz hätte mir niemals erlaubt, eine Entbehrung einzugestehen. Ich hätte mir und aller Welt beweisen müssen, dass es einen Menschen gab, der besser war als mein Bruder, nämlich mich. Ich war es gewesen, die ihm das Laufen und das Sprechen beigebracht hatte. Ich war es gewesen, die mit Kunststückchen und allerlei Unfug ein Lächeln nach dem anderen auf sein Gesicht zauberte. Ich war es gewesen, die ihm während seiner Schulzeit Mathematikformeln erklärte und auch das eine oder andere Referat für ihn schrieb. Ich war es schließlich, die ihn aus Gips, aus Ton und aus Stein formte. Ich hatte ihm beigebracht, schon mit fünfzehn ein Auto zu fahren. Ich hatte seine sexuelle Aufklärung übernommen. Kurz und gut, ich hatte keine Mühe gescheut, ihn für mich einzunehmen, an mich zu binden und von mir abhängig zu machen. Robert war mein wertvollster Besitz. Er war das Ding in meinem Leben, das mich über alle anderen hinaushob. Das konnte ich mir nicht wegnehmen, nicht beschädigen und erst recht nicht zerstören lassen von einer Isabell Torhöven. Wenn jemand zerstören durfte, was ich geschaffen hatte, dann wäre ausschließlich ich das gewesen. Ich habe niemals Robert, ich habe nur Piel gehasst für seine Ergüsse. Er degradierte meinen Bruder zu einem Stück Gips, Ton oder Stein. Nicht eine einzige Sekunde lang habe ich für Robert etwas anderes empfunden als Liebe und das Bedürfnis, ihn zu beschützen. Ich hatte ihn niemals um etwas beneidet. In all den Jahren hatte ich nichts weiter gesucht und gewollt als seine Nähe und sein Glück. Und Isabell Torhöven war sein Untergang. Aber Piel wollte das nicht wahrhaben. Er kannte sie nicht, hatte noch nie einen Blick auf sie geworfen, kein einziges Wort mit ihr gewechselt und maßte sich doch ein Urteil über sie an. Im Grunde war das nur ein Beweis seiner Selbstüberschätzung. Als er endlich begriff, dass die kleine Nutte andere Pläne hatte, als sich nur eine Weile von Robert aushalten zu lassen und dabei so viel wie möglich abzukassieren, legte Piel sich eine neue Meinung zu. Plötzlich vertrat er die Ansicht, der Beruf einer Frau ließe nicht unbedingt Rückschlüsse auf ihren Charakter zu. Dass er sich damit selbst widersprach, fiel ihm nicht auf. Vor Jahren hatte er behauptet, mein Beruf, die Bildhauerei, zeige meine unterschwellig vorhandene Neigung zu Gewalttätigkeit. Es sei meine Art der Selbstkontrolle, mich mit Hammer und Meißel an einem Stück Stein auszutoben. Und es entspräche
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