Roman
vorhergesehen, dabei war im Nachhinein völlig klar, dass es so kommen musste. Lizzy und Ben waren total vernarrt ineinander. Er vergötterte sie, fand ihre Eigenarten süß und hatte kein Problem damit, regelmäßig mit ihr zur Notaufnahme zu fahren, weil sie mal wieder auf einem Barhocker geschaukelt, auf dem Tisch getanzt oder einfach nur Schuhe mit zehn Zentimeter hohen Absätzen getragen hatte.
»Gott, ich liebe ihn so!«, seufzte Lizzy.
»Ich weiß. Aber du wirst uns fehlen.«
»Ich ziehe ja nur nach nebenan. Ihr könnt weiterhin jedes Wort von mir hören.«
Ihr Zahnarzt-Onkel hatte ihr als Hochzeitsgeschenk die zweite Wohnung über seiner Praxis geschenkt, und die Wände waren so dünn, dass wir uns unterhalten konnten, ohne die Stimme zu heben.
»Schon. Aber du wirst mir trotzdem fehlen. Und Ginger auch.«
»Meinst du?«
Auch wenn Ginger wusste, dass unsere Version des Valentinstagmassakers nicht Lizzys Schuld war, konnte man nicht verhehlen, dass seither eine gewisse Spannung zwischen den beiden herrschte.
In diesem Moment flog die Tür auf. Ginger kam herein, in der Hand ein nicht definierbares Getränk.
»Hier seid ihr also! Bitte sagt mir, dass ich dieses Kleid jetzt endlich ausziehen kann. Ich finde, ich sehe aus wie ein Schwindsuchtopfer aus dem 19. Jahrhundert.«
»Wow, dein Geschichtsunterricht war nicht umsonst!«, spottete ich.
Insgeheim war ich froh, dass der Alkohol Ginger nicht depressiv machte. In letzter Zeit war es oft reine Glückssache, in welcher Stimmung wir das Ende irgendeines Abends erlebten.
Mit viel Geknister ihrer Rüschen und der Tournüre beugte Ginger sich vor und umarmte Lizzy. »Es tut mir leid, dass ich in letzter Zeit so eklig zu dir war«, sagte sie. Oje, jetzt kam’s. »Es ist nicht deine Schuld, ich schwöre es. Es ist nur so, dass … Hast du je das Gefühl, dass das Leben mehr sein muss als das hier?«
Hallo, Depression, wir haben schon auf dich gewartet!
»Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass unbedingt was passieren muss, um dein Leben zu verändern? Ich meine, ich schaue den ganzen Tag Füße an. Füße! Warum mache ich das? Die Berufsberaterin, die mich dazu überredet hat, müsste gefeuert werden. Oder erschossen.«
Ja, ich verstand gut, was sie meinte. Wirklich. Keine von uns machte etwas, das die Welt verändern würde – ich hatte erst vierundzwanzig Stunden zuvor einen ähnlichen Gedanken gehabt.
Ehe jemand antworten konnte, wurden wir durch ein schrilles Kreischen unterbrochen.
»Oh Mist! Nein!« Lizzy sprang vom Waschtisch und stürzte zur Tür. »Ich habe sie gewarnt! Ich habe dem Typen von der Band gesagt, dass er keinen Cent kriegt, wenn er meine Mum ans Mikrophon lässt. Oh Mist, Ben wird die Ehe annullieren lassen, noch bevor sie zu Ende gesungen hat.«
Im verrauchten Ballsaal wurde Lizzys schlimmster Albtraum Wirklichkeit. Santa Carla vom Orden des heiligen Geschreis stand auf der Bühne, in einem blau-golden schimmernden Gewand, das sie sich für die Gelegenheit anscheinend extra von Shirley Bassey ausgeliehen hatte, und versaute I Never Promised You a Rose Garden . Mit Tanzeinlage.
»Sag mir, dass das nicht wahr ist!«, keuchte Lizzy, während die ziemlich traumatisiert wirkende Band die letzten Akkorde spielte. Carla verbeugte sich zum Applaus der wenigen Zuschauer, die nicht erstarrt waren. »Oh nein, sie singt noch eins. Ginger, du musst sie da runterholen, bevor, bevor …«
» Jolene? «
Lizzy nickte, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen.
Neeeeeiiiiiiin! Wir hatten Jolene auf Lizzys Party zum einundzwanzigsten Geburtstag gehabt, und es war kein Zufall gewesen, dass am nächsten Tag in der Zeitung gestanden hatte, der Tierschutzverband habe eine deutliche Steigerung der Hundesterblichkeitsrate in unserer Gegend verzeichnet.
»Okay, ich gehe rein!«
Ginger holte tief Luft und startete dann ein Manöver, das man nur als Stürmen der Bühne bezeichnen konnte. In einer geschmeidigen und dennoch entschlossenen Bewegung gelang es ihr, Carla das Mikrophon zu entreißen und sie zum Bühnenrand zu drängen. Dabei flüsterte sie ihr etwas ins Ohr, woraufhin Carla erschrocken die Hand vor den Mund hielt und zum Notausgang rannte.
»Autobrand?«, fragte ich Lizzy.
Sie nickte nur.
Das war Gingers Lieblingstrick, um jemand Unbequemes loszuwerden. Im Laufe der Jahre hatte sie schon zahllosen unschuldigen Männern, drei Pub-Besitzern, zwölf Türstehern und einem als Elvis verkleideten Stripper eröffnet, dass ihr Fahrzeug in
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