Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
sie wie eine exzentrisch geformte Wendeltreppe emporstiegen. Munisais Anwesen befand sich weit oben, aber noch unterhalb des Tempels der Amaterasu am gegenüberliegenden Hang, und unten im Tal überragte die rechteckige, dunkle Gestalt des Dojo-Gebäudes die bescheidenen strohgedeckten Holzhütten der Bauern.
Das alles lag ausgebreitet vor seinen Augen, doch er bemerkte es kaum.
Der Samurai ging an der Kammlinie entlang und sah sich um. Da war der Baum, auf den er geklettert war, dort der Bach, aus dem er getrunken hatte, und da drüben wiederum der kleine Schrein für einen Felsgeist, an dem er Opfergaben niedergelegt hatte. All das war Teil seiner Vergangenheit, und dennoch erschien es ihm sehr fern. War er wirklich hier aufgewachsen?
Er war auf dem Weg hinüber zu dem landeinwärts gelegenen Tal und den Ruinen, die es dort geben musste, an die er sich allerdings nicht erinnerte. Er hatte die dortigen Häuser intakt in Erinnerung – und dann in Flammen stehend. Kurz bevor er den Hügelkamm erreichte, zögerte er und atmete tief durch, um sich zu wappnen. Dann ging er weiter und stieg in das Tal hinab.
Nichts regte sich dort. Einst war dieses Tal ebenso mit Leben erfüllt gewesen wie das andere, nun jedoch war alles dem Verfall preisgegeben. Der Weg unter seinen Füßen war mit Moos und Gras bewachsen und frei von Spuren menschlicher Schritte. Er kam an einem leeren Fass vorbei, das sich ein Bienenschwarm angeeignet hatte, und das dunkle Summen erinnerte ihn an einen Trauerchor. Im langen wilden Gras, das auf den ausgetrockneten Resten der Reisfelder wucherte, raschelte der Wind.
Das alles kümmerte ihn nicht. Er war kein Bauer und kein Imker. Er sah einzig die traurige Schar der geschwärzten Balkenreste am Grund des Tals, sie alle so dunkel wie die Nacht damals, acht Jahre zuvor, als er ebenfalls diesen Weg genommen hatte.
Die Überreste zogen an ihm vorbei, mächtige Fundamentsäulen und knorrige Baumstümpfe, allesamt verkohlt. In einige waren Gebete geritzt, die darum baten, dass die Toten in Frieden ruhen mochten und nicht zurückkehrten, um die Lebenden zu plagen.
Munisai berührte einen der Balkenstümpfe. Er fühlte sich kalt und leblos an. Was hatte er auch anderes erwartet?
Dann betrat er das, was einmal der Innenhof eines Hauses gewesen war. Die Pflastersteine, nun rissig und bemoost, markierten immer noch einen Weg um einen längst abgestorbenen Baum herum. Munisai erinnerte sich, wie er in Blüte gestanden hatte, roch noch den Duft der Kirschblüten, sah ihr leuchtendes Rosa vor dem sanften Blau des Himmels. Aber genauso wenig hatte er vergessen, wie der Baum Feuer fing, die brennenden Blüten wie glühender Regen von den Zweigen fielen und zu Asche verbrannten, die der Wind mit sich nahm.
Hier an dieser Stelle, acht Jahre zuvor.
Wenn er sich den Erinnerungen stellte, fand er ja vielleicht die richtigen Worte für den Jungen. Ihn, der an Leib und Gesicht so anders war als Munisai, der ihn aber mit Yoshikos dunklen Augen ansah, als hätte sie diese Welt nie verlassen. Daran erinnerte er sich vor allem – an das letzte Mal, als er seiner Frau in die Augen gesehen hatte, während sie vor ihm kniete.
Munisai seufzte, und die Beklemmung in seiner Brust nahm mit jedem Herzschlag zu. Ehrerbietig verneigte er sich vor den verkohlten Resten des Kirschbaums und ließ sich in meditativer Haltung nieder, um in sich zu gehen und nachzudenken.
* * *
Bennosuke sah vom Hügelkamm aus zu, wie sein Vater reglos verharrte. Sein blauer Kimono war der einzige Farbfleck inmitten der Ruinen, ein ungewohnter Anblick in dem sonst so vertrauten Bild.
Munisai hatte nicht bemerkt, dass ihm jemand folgte. Die Mühe, sich zu dem Gang hierher zu zwingen, musste zu groß gewesen sein. Als Bennosuke aufgewacht war, hatte er zu ihm gehen und ihm sagen wollen, was er in der Nacht vom Dojo aus mit angehört hatte. Doch als er sich dem Haus näherte, blieb er abrupt stehen.
Ihm wurde klar, dass sein Vater ihn fragen würde, weshalb er die Männer nicht gestellt hatte, wie es sich für einen Samurai gehörte, und auf diese Frage wusste Bennosuke keine Antwort.
Eine solch peinliche Befragung fürchtend, wollte er sich schon wieder davonschleichen, als Munisai aus dem Haus trat. Sobald er sah, wohin sein Vater ging, folgte er ihm neugierig in einigem Abstand. Munisai stieg, ohne auch nur einmal stehen zu bleiben, in das andere Tal hinab. Anscheinend fürchtete er sich nicht, diesen Ort der Trauer zu betreten.
Die
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