Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
Munisai würde den Anblick seines Erben niemals ertragen.
Er versuchte, nicht hinzuhören, und schalt sich selbst dafür, dass er mehr erwartet hatte als einige knappe Worte. Schließlich wusste er, dass sein Vater ein Samurai war und dass Samurai sich niemals ihren Gefühlen hingaben. Nur ganz schemenhaft erinnerte er sich, seinen Vater einmal lächeln gesehen zu haben. Das war damals, als er noch so klein war, dass Munisai ihn auf dem Arm getragen hatte.
Seit seinem Fortgang aus dem Dorf hatte es nur einige wenige Sendschreiben von ihm gegeben, abgeschickt aus Fürst Shinmens Festung. Darin ging es um die Verwaltung des Guts und um den Wechsel des Familiennamens. Kein einziges Mal hatte er nach Bennosuke gefragt, wahrscheinlich weil er wusste, dass der Junge von anderen aufgezogen wurde, und es dringendere Dinge gab, um die er sich kümmern musste.
Seinen eigenen Pflichten nachkommen und darauf vertrauen, dass auch die anderen ihre Pflichten erfüllten: Das war der Weg des Samurai. Und Samurai wie sein Vater hielten Wort; zu gegebener Zeit würden sie miteinander sprechen, und auch der Junge würde lernen, ein Samurai zu sein.
So musste es sein, sagte sich Bennosuke.
Doch der Zweifel nagte an ihm.
Wenn dem so ist, warum versteckst du dich dann hier in der Dunkelheit? Warum handelst du nicht wie der Samurai, für den du dich hältst, und bringst den Mann dazu, dich zu respektieren, wie es dir gebührt?
Logik würde ihm in dieser Nacht nicht weiterhelfen, das war Bennosuke klar. Stattdessen versank er in Selbstmitleid und hasste sich dafür. Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Arme um sich zu schlingen, nach einer halbwegs bequemen Stellung zu suchen und zu hoffen, dass der Schlaf ihn von all diesen Gedanken erlösen würde.
Nach und nach lullte das Zirpen der Insekten ihn ein. Der beständige Laut hüllte seinen halb schlummernden Geist in eine Wolke, bis er gedämpfte Menschenstimmen vernahm, die in sein Bewusstsein drangen wie das Licht einer Laterne durch Nebel. Er hörte sie, brauchte aber lange, um sie als real zu erkennen. Es waren zwei Männer, die draußen vorbeigingen und sich stritten.
«Dieser Teufel», fluchte der eine, ein wenig lallend. «Kommt wieder, und was erwartet er?»
«Bist du wohl still!», zischte der andere.
«Sag mir, was er erwartet!»
«Ich weiß es nicht. Und ich will es auch nicht wissen.»
Es waren Bauern, das erkannte Bennosuke am Akzent. Ihre Stimmen klangen heiser, als stritten sie schon eine ganze Weile.
«Wir müssen es tun. Er ist da oben auf dem Hügel – allein», sagte der erste Mann. Bennosuke erhob sich und schlich zur Tür des Dojo, um zwischen den Bambusleisten in die Nacht hinauszuspähen. In der Dunkelheit erkannte er aber nur vage Schemen.
«Wir haben Werkzeug. Wir brauchen kein Schwert. Eine Sichel tut’s auch. Wir machen es einfach und verschwinden. Wir müssen es tun.»
«Er ist nicht allein. Sein Sohn ist bei ihm.»
«Umso besser. Dann erledigen wir den gleich mit, räumen im Dorf richtig auf.»
«Schau dich doch mal an: Du kannst dich kaum noch auf den Beinen halten. Komm, lass uns nach Hause gehen.»
«Wir müssen es tun. Er muss dafür bezahlen!»
«Und wenn du’s nicht schaffst? Willst du, dass er noch mal durchdreht und auch das restliche Dorf niedermacht? Es ist zu gefährlich.»
«Ich kann das», beharrte der erste Mann und schluchzte. «Ich muss es tun.»
«Nein, musst du nicht. Komm, wir gehen nach Hause.»
«Meine Schwester …»
«Ich weiß.»
«In dem Feuer …», brachte der erste Bauer noch hervor und brach dann weinend zusammen. Es waren Tränen der Trunkenheit, laut und rührselig. Er heulte einen Moment lang, bis sein Freund ihn beruhigte.
«Gehen wir nach Hause», sagte der zweite Mann schließlich, nachdem sich die Gefühlsaufwallung des anderen ein wenig gelegt hatte. Der erste Mann willigte mit einem schniefenden Grunzen ein, und dann verschwanden sie in der Nacht. Bennosuke jedoch blieb mit der Frage zurück, was er da eigentlich gerade mitangehört hatte.
* * *
Im Schein der Morgensonne schritt Munisai auf den Wegen seiner Kindheit einher. Alles erschien ihm fremd. Gedankenverloren bemerkte er kaum, wie die Bauern vor ihm zurückwichen und sich beflissen tief verneigten – und dass Mütter bei seinem Anblick ihre Kinder hinter dem Rücken versteckten.
Miyamoto war ein Dorf, wie es in Japan Hunderte gab, ein ausgedehntes Netz von Reisfeldern, terrassenförmig an den Hängen über einem Tal angelegt, sodass
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