Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
zerstört alle Illusionen. Wundert dich das etwa?»
«Nein. Aber ich hatte gehofft …» Die Worte hingen in der Luft wie der Geruch nach Kräutern und Verwesung.
«Bennosuke ist ein wohlgeratener junger Mann», fuhr Dorinbo fort, nahm die Arbeit wieder auf und drückte die Nadel vollends hinein. «Er ist klug und wissbegierig. Und Tasumi zufolge ist er auch ein begabter, vielversprechender Kämpfer.»
«Was willst du damit sagen?»
«Dass jeder Mann froh wäre, ihn zum Sohn zu haben. Trotz allem.»
«Trotz allem …», wiederholte Munisai düster.
Dann saßen die Brüder wieder schweigend da. Die Nadeln mussten, um ihre Wirkung zu entfalten, einige Zeit stecken bleiben. Als die Kräuter heruntergebrannt waren, zog der Mönch die Nadeln nacheinander wieder heraus, versorgte die Wunde mit einem Breiumschlag und legte einen frischen Verband an.
«Wir werden das noch sehr oft tun müssen. Es wird nur langsam heilen, wenn überhaupt», sagte er und legte seine Utensilien zurück in das Bündel, in dem er sie hergebracht hatte.
«Kann ich irgendwie zur Heilung beitragen?», fragte Munisai.
«Beten vielleicht.»
«Dann werde ich das möglicherweise tun.»
«Wir wissen doch beide, dass du es nicht tun wirst», erwiderte Dorinbo.
Munisai nickte und ließ den Anflug eines schiefen Lächelns erkennen. Dann wandte er den Kopf und sah seinem Bruder in die Augen. «Hat man die andere Seite des Dorfs wieder aufgebaut?»
«Nein. Die liegt immer noch in Trümmern. Da traut sich keiner ran. Einige Bauern glauben, dass es dort spukt.»
«Dann werde ich morgen mal hingehen.»
«Gute Idee», sagte Dorinbo. Er nahm seinen Beutel, erhob sich und ging zur Tür. Dort blieb er noch einmal stehen, seinem Bruder den Rücken zugewandt. «Der Junge ist nicht schuld daran, Munisai. Bedenke das vor allem anderen.» Dann schob er sacht die papierbespannte Tür hinter sich zu.
Munisai lauschte den leisen Schritten, die in die Nacht entschwanden. Dann blies er die Kerze in der Laterne aus und ging noch einmal hinüber zur Rüstung.
In der Dunkelheit sah er nur den leuchtend weißen Schriftzug seines alten Namens auf hellblauem Grund.
* * *
Tief unten im Tal von Miyamoto, wo sich das Dojo befand, war die Nacht am dunkelsten. Der harte Holzboden, auf dem Bennosuke lag, gab ein schlechtes Bett ab, doch das war noch der geringste Grund, weshalb er nicht schlafen konnte.
Sein Vater war heimgekehrt.
Munisai hatte an diesem Nachmittag einige höfliche Worte mit Tasumi gewechselt, während der Junge in seinem immer noch triefnassen Lendenschurz dabeigestanden hatte wie ein Schwachkopf ohne Zunge. So gut wie nackt stand er vor seinem Vater, mager, schlaksig und mit Ausschlag bedeckt. Fast hätte er vor Scham gezittert, als dieser schließlich den Blick auf ihn richtete. Munisai, der stattliche, starke Samurai, musterte ihn von Kopf bis Fuß, und obwohl er schließlich nickte, war nicht zu erkennen, was er dabei dachte.
Mit der unversehrten Hand klopfte er seinem Sohn auf die Schulter und sagte knapp: «Wir unterhalten uns später. Jetzt ziehe ich mich erst mal in mein Haus zurück.»
Bennosuke nickte wie ein Idiot, brachte nicht den Mut auf, ihm zu sagen, dass auch er immer noch dort wohnte. Stumm sah er zu, wie sein Vater davonging, während er sich für seine Schüchternheit verfluchte. Wo sollte er nun hin? Er schämte sich zu sehr, um bei Dorinbo oder Tasumi Unterschlupf zu suchen, denn dann hätte er ihnen seine Feigheit gestehen müssen. Am Ende schlich er sich, als es Nacht wurde, ins Dojo.
Jetzt lag er dort und ging die Begegnung immer wieder in Gedanken durch. So oft hatte er sie sich ausgemalt. Kindische Phantasien hatte er gehegt – Munisai würde ihm zum Zeichen, dass er nun erwachsen war, ein Langschwert überreichen, dann würden sie gemeinsam immer stärker werden, und alle seine Probleme wären wie weggezaubert. In anderen Phantasien sah es düsterer aus, dann ging es um Schande und Exil. Doch keine davon hatte sich bewahrheitet. Es hatte weder eine dramatische Szene gegeben noch die große Versöhnung. Völlig unspektakulär war die Begegnung verlaufen. Nun jedenfalls war er allein, und eine tiefe Dunkelheit umfing ihn – körperlich wie seelisch. Die Nacht glich dem Brustpanzer seines Vaters: Deutlich spiegelte sich seine eigene Schmach darin wider.
«Wir unterhalten uns später.»
Er hörte die Worte noch einmal, gewispert von den gleichen grausamen Stimmen, die ihm beim Putzen der Rüstung einflüsterten,
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