Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
verkohlten Stümpfe rings um ihn her wirkten mit einem Mal größer. Bennosuke dachte wieder an die beiden Bauern der vergangenen Nacht. Sie waren zwar betrunken gewesen – so viel wusste er, auch wenn er sich diesen Zustand nur vage vorstellen konnte –, hatten aber mit einer Aufrichtigkeit gesprochen, der man selten begegnete. Aus tiefstem Herzen hatten sie geredet, vehement und voller Hass auf Munisai.
Warum?
Er wusste, er hätte sich zu seinem Vater gesellen und ihm diese Frage stellen sollen. Doch obwohl er eine ganze Zeitlang dort saß, brachte Bennosuke nicht den Mut dazu auf.
Morgen, schwor er sich schließlich. Der Mann brauchte Zeit – wie er selbst auch. Heute die Toten, morgen die Lebenden. Morgen würden sie alles Nötige sagen und tun, auch wenn er nicht wusste, was das war.
Morgen.
* * *
Hayato Nakata stolzierte, erfüllt von ziellosem Groll, die Flure entlang und betrachtete mit bitterer Miene die kostbaren Kunstwerke ringsumher. Auf den papierbespannten Wänden prangten schwarze Tuschezeichnungen, die Schilfrohr am Seeufer zeigten und davonfliegende Kraniche. Ins Holz darüber waren Laub- und Blütenmuster geschnitzt.
Doch das alles war egal, denn es gehörte nicht ihm.
Kunst zeugte einzig und allein vom Reichtum eines Mannes, das war ihr ganzer Zweck. Sie zeigte, dass er es sich leisten konnte, jemanden dafür zu bezahlen, etwas vollkommen Nutzloses zu tun. Ein Bild zu bewundern, das einem anderen Mann gehörte, hieß, der impliziten Aussage des Besitzers zuzustimmen: «Das hier existiert auf mein Geheiß, und indem du es bewunderst, erkennst du meine Größe an.»
Das hier war die Burg seines Vaters, waren die Kunstwerke seines Vaters, doch diesen Gefallen würde er dem alten Mann nicht tun.
Er überlegte, dem Papier einen Fausthieb zu versetzen und einen der Kraniche entzweizuschlagen, doch das wäre sinnlos. Man würde es bemerken, sein Vater würde ihn zur Rede stellen, und dann würde er die kindische Tat gestehen müssen. Das war alles, was man gegenwärtig in ihm sah: ein Kind.
Ein Kind, das in der Behaglichkeit der Stadt lebte. Wieder hörte er die Stimmen und das Kichern der Sänftenträger, Laute, die er in letzter Zeit oft hörte.
Der alte Fürst vertraute Hayato nichts an, was irgend von Belang gewesen wäre. Nichts weiter erwartete man von ihm, als einfach nur zu leben, die langen Tage irgendwie hinter sich zu bringen und sich bereitzuhalten, bis sein Vater eines Tages starb. Und so tat er nichts weiter, als zu trinken. Auch jetzt hielt er eine Flasche Sake in der Hand und nahm immer wieder einen Schluck daraus, erfüllt von heißem Zorn.
Er wandte den Kopf und schaute in die Welt hinaus, über die gepflegten Gärten seines Vaters hinweg. Alles und doch nichts sah er, hatte kein Zeitgefühl mehr, und wie so oft in letzter Zeit kochte die Wut in ihm hoch.
Hinter ihm wurde eine Tür aufgeschoben. Zwei junge, puppenhübsche Dienerinnen kamen herbei. Sie sprachen leise miteinander, verstummten aber, als sie den jungen Fürsten sahen. Lächelnd verneigten sie sich und hielten den Blick gesenkt. Hayato musterte sie kühl und versuchte sich zu erinnern, ob er eine von ihnen schon einmal mit ins Bett genommen hatte.
Der Flur war schmal, und die Dienerinnen mussten hintereinandergehen, um an ihm vorbeizukommen. Sie bewegten sich sittsam und scheu, er aber drehte sich so, dass sie sich an ihm vorbeizwängen und fast sein Gesicht mit ihren streifen mussten. Die erste erkannte er nicht, die zweite durchaus. Sie war es, die nach Shinmens Schlacht in der Sänfte Koto gespielt hatte. Er erinnerte sich an das plötzliche Stocken in ihrem Spiel und an seine glühenden Wangen.
«Was lachst du da?», fragte er und trat vor, drängte sie an die Wand.
«Hoheit?», erwiderte sie mit ausdrucksloser Miene und, wie die Etikette verlangte, ohne ihm in die Augen zu sehen.
«Worüber du lachst, habe ich gefragt!», knurrte er und versuchte, ihr Handgelenk zu ergreifen.
Doch sie riss sich los und fiel auf die Knie, berührte mit der Stirn den Boden und plapperte Entschuldigungen. Ihre Gefährtin stand entsetzt dabei, wusste aber, dass sie sich nicht einmischen durfte. Mit gefalteten Händen wandte sie sich halb ab und versuchte, sich außer dem besorgten Blick und der bebenden Unterlippe nichts anmerken zu lassen.
Hayato sah zu, wie das andere Mädchen vor ihm auf allen vieren katzbuckelte, wobei das schwarze Rund ihres zurückgebundenen Haars auf und ab wippte. Kurz überlegte er, ihr die
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