Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
angelächelt hatte, nur weil es ihn gab.
«Greif mich an!», brüllte Munisai. «Schlag zu! Töte mich!»
Doch Bennosuke zögerte. Da waren immer noch die beiden schlanken Waffen. Er stellte sich vor, wie die Schwertschneide aufblitzen und auf ihn zusausen würde, dachte an den eisigen Schnitt quer durch seinen Körper, aus dem sodann alles Leben entweichen würde. Ihm sank der Mut. Angst zu sterben machte sich in ihm breit, auch wenn es sich nicht für einen Samurai geziemte. Scham erfasste ihn, und er ließ den Kopf sinken.
«Töte mich!», bellte Munisai geradezu verzweifelt ein letztes Mal, als der Junge den Blick von ihm abwandte. «Los!»
«Es reicht, Munisai», mischte sich Dorinbo wieder ein.
Das war kein Flehen mehr, sondern strenger Befehlston, der aber gar nicht mehr nötig war. Was auch immer Schreckliches hätte geschehen können – die Gefahr war in dem Moment gebannt gewesen, als Bennosuke den Blick niedergeschlagen hatte. Es würde heute kein Blutvergießen mehr geben, das spürten sie alle. Der Mönch richtete sich auf und sah zwischen den beiden hin und her. Bennosuke hielt den Blick gesenkt. Munisai ließ den Arm sinken, und sein Körper entspannte sich.
«Was ist los mit dir?», fuhr Munisai Bennosuke an.
«Mit ihm ist alles in Ordnung», sagte Dorinbo. «Er ist zu Höherem bestimmt.»
Munisai lachte verächtlich auf. Doch etwas war anders, sein Blick und Tonfall hatten sich gewandelt. Er hatte sich wieder hinter seinen Wall aus Gefühlskälte zurückgezogen.
«Dafür bist du nicht zurückgekehrt, Munisai», wies Dorinbo den Samurai zurecht. «Bestrafe den Jungen nicht für unsere Fehler.»
Munisai funkelte seinen Bruder provozierend an, doch der Mönch trotzte dem Blick mit kühler Miene. Es erstaunte Bennosuke, bei seinem Onkel eine solche Härte zu entdecken, noch erstaunter aber war er, als Munisai sich geschlagen gab.
«Also gut.» Mehr brachte der Samurai nicht mehr hervor. «Also gut.»
Er sah Dorinbo noch ein letztes Mal in die Augen und schritt dann in die Nacht davon, die rechte Hand an den Schwertern, die verletzte Linke vor den Oberkörper gebunden. Schließlich verschwand er in der Dunkelheit.
Der Junge und der Mönch waren allein.
«Er hat recht», sagte Bennosuke. «Ich hätte ihn töten sollen.»
«Das war eine Falle. Er hätte dich umgebracht», erwiderte Dorinbo. «Er wollte dich nur provozieren. Seine Ehre …»
«Ich weiß!», fauchte Bennosuke. «Ich weiß das! Aber es sollte mich nicht kümmern! Ich hätte es wenigstens versuchen müssen! Das wäre das Richtige gewesen! Das hätte ein Samurai getan!»
«Aber dann wärst du jetzt tot.»
«Egal. Was bin ich bloß für ein Mensch, dass ich es nicht fertigbringe, den Mann anzugreifen, der meine Mutter ermordet hat? Was stimmt bloß nicht mit mir?», gab der Junge zurück und hasste sich in diesem Moment zutiefst. Tränen der Scham traten ihm in die Augen.
«Kanntest du deine Mutter denn überhaupt?», fragte der Mönch nach kurzem Schweigen. «Wer war sie für dich? Woran erinnerst du dich?»
«Ich …», sagte der Junge und dachte zurück. Aufblitzende Bilder, Stimmen, Gerüche, das vage Gefühl, geliebt zu werden.
«Nach dem, was du heute Abend über sie erfahren hast, darüber, was sie getan hat – ist sie für dich immer noch dieselbe Frau?»
Nein. Er war ein Werkzeug ihrer Rache. Er war kein Sohn, sondern ein Instrument. Hatte sie ihn überhaupt je geliebt – oder hatte sie nur den Gedanken daran geliebt, wie er Munisai schließlich töten würde? Er wusste es nicht und würde es nie erfahren. Ihm drehte sich alles.
«Dann sag mir: Warum wäre es richtig gewesen, für jemanden zu sterben, den du im Grunde gar nicht gekannt hast?», fragte Dorinbo in sanftem Ton, da er die Zweifel im Gesicht des Jungen sah. «Mit einem Menschen, der sich entscheidet, nicht zu morden, stimmt durchaus alles: Du hast das Richtige getan.»
«Aber ein Samurai hätte …», begann Bennosuke störrisch, wider alle Vernunft.
«Vielleicht ist dir ein anderer Weg bestimmt», wandte Dorinbo ein.
«Nein, ich werde ein Samurai», beharrte Bennosuke.
Dorinbo blickte seinen Neffen an und hätte ihn gern an seinen Vorschlag erinnert, bei ihm in die Lehre zu gehen. Doch was er sah, war das Leid eines Erwachsenen im Gesicht eines Kindes, und er brachte es nicht über sich, ihm noch eine weitere Bürde aufzuladen.
Die Nacht war kühl und tief. Wortlos legte Dorinbo dem Jungen eine Hand auf die Schulter und führte ihn zu seiner
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