Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
Hütte hinauf, auf heiligen Grund, wo sie gemeinsam den Morgen erwarten würden. Mehr konnte er nicht tun.
* * *
Munisai schritt nach Hause, immer noch bebend und schnaubend vor Wut. Er versuchte, sich zu beruhigen, aber es gelang ihm nicht. Rings um ihn lag das Wasser der Reisfelder wie Obsidianscheiben da, in denen sich die Sterne spiegelten. Er verspürte den Drang, sein Schwert zu ziehen und sie zu zerschlagen, den Himmel aufzuschlitzen, die ganze Welt niederzumetzeln, nur weil ihm danach war.
Aber er tat nichts dergleichen.
Zu Hause angelangt, riss er die Tür auf und warf sie mit solcher Wucht hinter sich zu, dass die Drehbewegung an seiner Wunde zerrte und er aufschrie. Während sein ganzer Körper noch vor Schmerzen pochte, fummelte er mit fühllosen Fingern an einer Laterne herum, und in ihrem schummrigen Licht streifte er schließlich rastlos durch die stillen Gemächer des Hauses.
Bald schon stand er, ohne es beabsichtigt zu haben, wieder vor der Rüstung.
Sie verhöhnte ihn, führte ihm mit ihrer Extravaganz vor Augen, was für ein schamloser Mensch er einst gewesen war. Und dann war da natürlich noch der in Weiß gestickte Name, den er in Verruf gebracht hatte. Es war zu viel für ihn, er ertrug es nicht mehr. Er versetzte der Rüstung einen Tritt, und sie schepperte über den Boden. Der Helm kreiselte noch einen Moment, bis er schließlich liegen blieb. Die Stille durchbrechend, entfuhr den Lippen Munisais ein kurzer, leiser Fluch.
Warum weigerte sich der Junge, ihn zu töten?
Vielleicht hätte er es getan, wenn Munisai ihm die ganze Geschichte erzählt hätte … oder von dem entscheidenden Moment. Aber dieser Moment … Munisai wusste, dass dieser Moment etwas war, was er keinem anderen Menschen jemals würde gestehen können. Hier aber, ganz allein in dem Haus, in dem das alles geschehen war – hier konnte er sich daran erinnern.
* * *
Y oshiko war ein schönes Mädchen und hatte ein gutes Herz. Ihr Name bedeutete «Kind der Freude», und jeder Mann, der ihr begegnete, verliebte sich in sie. Man sagte, ihre Anmut müsse aus einem früheren Leben stammen, so überwältigend war sie, und als sie zur Frau heranwuchs, konnte sie sich vor Verehrern kaum retten. Abends speiste sie oft mit reichen und berühmten Männern, hörte sich ihre prahlerischen Erzählungen an, in denen es um Tapferkeit und Witz, Klugheit und Krieg ging, und tat großzügig so, als glaubte sie ihnen aufs Wort.
Heiratsanträge folgten dementsprechend zahlreich und unterschieden sich nur darin, wie groß das Gut war, auf dem sie leben würde, wie viele Dienerinnen ihr zu Gebote stehen und welche Titel auch auf ihre Kinder übergehen würden. Ihr Vater hörte sich alles genau an und wartete auf die beste Partie, ihr aber bedeutete das alles nichts.
Mit sechzehn trug sie immer noch den langärmligen, bunt gemusterten Kimono einer Jungfer. Sie lebte in einem Traum und träumte von Liebe, und weil die Götter und Geister größtenteils Männer waren und Yoshiko nun einmal Yoshiko, gestatteten sie ihr, sie zu finden.
Munisai Hirata wurde ihr an einem Nachmittag der Poesie vorgestellt. Zwei Dutzend Männer und Frauen aus dem Stand der Samurai saßen an einem Bach im weichen Gras, die Frauen unter Papiersonnenschirmen, die Männer ins Licht blinzelnd. Bachaufwärts ließ ein Diener schwimmende Sakeschalen zu Wasser, und sobald sie vorbeitrieben, mussten die Anwesenden reihum Verse zu einem vorgegebenen Thema dichten – über den Flug der Vögel etwa oder die Wärme des Windes.
Man vergnügte sich und lachte viel, und keinen kümmerte, dass die Gedichte allenfalls mittelmäßig waren, denn schließlich mundete der Sake. Munisai war ein paar Jahre älter als Yoshiko, unter den anwesenden Männern jedoch der jüngste, auch wenn man es ihm nicht anmerkte. Als er schließlich an der Reihe war, machte er eine abschätzige Handbewegung und sagte mit verschmitztem Grinsen:
«Erst am Tag meines Todes wird man mich dazu kriegen, dass ich ein Gedicht schreibe.»
Seine Worte waren flegelhaft und arrogant, doch während die anderen höflich Belustigung heuchelten, spürte Yoshiko, als sie ihn dort im Sonnenschein sitzen sah, ganz tief in der Kehle ein wunderbares, warmes Pulsieren.
Sein Name fiel in den nun folgenden Monaten oft, und jedes Mal merkte Yoshiko auf. Männer sprachen davon, dass seine Forschheit nur von seinem Geschick im Schwertkampf übertroffen würde, das für sein Alter erstaunlich war, und Frauen kamen, wenn ihre
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