Rosenrot
zurücklaufen und ging den Tag durch.
Das Gefühl am Morgen, als sie aus dem Schlaf hochgeschreckt war, wie man es tut, wenn einen der Alptraum gerade verschlingen will. Doch sie hatte nicht geträumt. Es gab keinen Alptraum, um daraus hochzuschrecken. Nur eine große Leere, als wiese das Aufwachen auf etwas voraus, statt es abzuschließen. Ein enormes Loch mitten in der Pechschwärze, in das langsam etwas Fremdes einsickerte. Sie konnte ahnen, wie es sich füllte, ein schwaches, ganz schwaches Rieseln, sie konnte eine Andeutung von Duft wahrnehmen, und dann durchfuhr sie ein Beben, eine durchgreifende, glasklare Einsicht, die so schnell verschwand, wie sie gekommen war. Für einen kurzen Augenblick hatte ein Teil von ihr, den sie nicht erreichte, einen Zusammenhang gesehen, doch sie konnte ihn nicht zurückrufen, nur das sich noch haltende Gefühl akzeptieren, dass etwas im Begriff war zu explodieren. Und sie hätte es wissen müssen.
Sie machte Frühstück. Sie bewegte sich zwischen ihren abgenutzten Küchenmöbeln, und kein einziger Gegenstand war derselbe wie am Tag zuvor. Da hatten sie unzerstörbar gewirkt, unveränderlich. Jetzt waren sie flüchtig. Sie hatte die Empfindung, als könnten ihre Finger jederzeit durch die Dinge hindurchgreifen und ins Leere sinken, als könnte die Hand nur um sich selbst greifen. Sie trank ihren Morgenkaffee, und er schmeckte nach nichts, als wäre er dabei, sich zu verflüchtigen, und als sie die Kungsgata hinunterjoggte, kostete es sie nicht die geringste Anstrengung. Als wäre sie es, die sich verflüchtigte, die verdampfte, und nicht die Dinge.
Etwas ging mit ihr vor.
Aber war es in ihr oder kam es von außen?
Und warum? Was war das für ein sonderbarer Zusammenhang, den sie da in der Pechschwärze geahnt hatte?
»Ich glaube, hier haben wir etwas.«
Sie blickte auf. Der Schweißgeruch war verschwunden. Verdampft.
»Hallo«, sagte Roger Rikardsson und fuhr sich mit der Hand durch seine langen fettigen Haare. »Ist jemand zu Hause?«
»Was?« sagte Kerstin Holm.
»Ich filtere es nur noch ein paar mal.«
Sie nickte und wusste nicht, wozu sie nickte.
Sie war zur Arbeit gekommen. Paul Hjelm hatte in ihrem Zimmer gewartet. Er saß auf ihrem Schreibtisch und hielt ein Formular in die Höhe. »Vergiss nicht, die Papiere auszufüllen«, sagte er.
»Was für Papiere denn?«
»Der Kommissarsposten bei den Internen. Muss spätestens am Dreizehnten bei Grundström sein. Chef der Stockholm-Abteilung.«
»Mal sehen ...«
Er sprang vom Schreibtisch. »Es sieht so aus, als müsste ich runter nach Schonen«, sagte er und betrachtete ihre Hände.
»Artos Selbstmordbrief. Hast du jetzt den Überblick über alle losen Enden?«
»Warum siehst du auf meine Hände?« fragte sie.
Er tippte mit dem Zeigefinger in die Luft und sagte: »Du drehst deinen Ring.«
Sie hörte auf, den Ring zu drehen.
»Ist etwas mit dir nicht in Ordnung, Kerstin?« fragte er.
Aufrichtig? Oder nur sozial? Machte er sich wirklich Sorgen? Wichen Sie einander aus? War er nicht auf dem Weg fort von ihr? Wie alles im Universum auf dem Weg fort von allem anderen ist.
Sie waren plötzlich in einem Hotelzimmer in Växjö – vor Gott weiß wie vielen Jahren. Sie lagen umschlungen im Bett, und das rote Mal auf Paul Hjelms Wange sah aus wie ein kleines Kreuz. Sie hatte gerade von ihrer Vergangenheit erzählt, von Onkel Holger und Dag Lundmark, und er war abrupt erschlafft. In dem Augenblick hatte sie begriffen, wie eng verbunden sie waren.
Auch jetzt noch?
Sie sah in seine Augen.
Doch, es war noch da. Das Band zwischen ihnen bestand noch. »Irgend etwas kommt auf mich zu«, sagte sie.
»Was meinst du?«
»Ich habe kein gutes Gefühl. Ich weiß nicht.«
»Ist es Lundmark? Ist es der ganze Mist, der zurückkommt? Die Erinnerungen?«
»Nicht direkt.«
Sie schwiegen eine Weile. Paul Hjelm betrachtete sie. Es war ihm anzumerken, dass er die Frau, die er vor sich sah, nicht richtig wiedererkannte.
Sie sagte: »Wenn es passiert, dann lass mich nicht im Stich.«
Er drückte ihre Hände und verschwand.
»Wer sagt‘s denn«, frohlockte Roger Rikardsson. »Gleich haben wir‘s.«
Da war sie bei Hultin.
»Hotel?« sagte sie.
»Ja«, sagte Hultin und nahm seine Eulenbrille ab. »Dag Lundmark wohnte in einem versifften Hotel in Huddinge. Hotel Siebenstern. Die Ortspolizei war da, aber sie haben nichts gefunden. Sie hatten den Eindruck, dass der Raum ziemlich lange unbewohnt war. Staub an Stellen, die man
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