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Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Titel: Rot wie eine Braut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anilda Ibrahimi
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nicht.

Achtzehn
     
    Die Zeit verstrich langsam in Kaltra. Ein Leben inmitten der undurchdringlichen und grenzenlosen Stille der Berge. Unterbrochen nur von dem Rauschen der im Wind bewegten Bäume.
    Die Leute kümmerten sich um die immer gleichen Angelegenheiten. Sie kümmerten sich um vergangene Geschichten, die sie ständig wieder aufleben ließen, als seien sie am Abend zuvor geschehen.
    Etwa die Geschichte von Mysafirs Nase. In einer großen Stadt wäre sie nach einem Tag vergessen gewesen. In einer großen Stadt hat es das Leben nicht nötig, sich ein halbes Jahrhundert mit der abgeschnittenen Nase eines Heranwachsenden, der die Frau des Nachbarn gevögelt hat, aufzuhalten. In einer großen Stadt gibt es immer jemanden, der sich mit der Frau des Nachbarn amüsiert. Wer dagegen in Kaltra die Frau des Nachbarn vögelte, hatte nur einen Namen, er konnte nur Mysafir heißen.
    So wurden alle treulosen Frauen in Kaltra Esma genannt, und es spielte keine Rolle mehr, ob Esma ihren Mann tatsächlich betrogen hatte oder nicht.
    Um auf die Geschichte der schönen Esma zurückzukommen, wie hatte sie so einfach fortgehen und die Töchter zurücklassen können?
    An jenem Abend fragt der Oberst Esma, ob sie auch ihre Töchter mit zur Mutter nehmen will, aber sie entschließt sich dagegen. Nicht, weil sie sie nicht liebt, im Gegenteil, gerade wegen ihrer übergroßen Liebe. Sie stellt sich das Leben der beiden im Dorf vor, als Töchter einer Frau, die wegen Angelegenheiten der Kurvëria verstoßen wurde. In der Hauptstadt würde sich dagegen niemand dafür interessieren, der Oberst könnte einfach sagen, die Ehefrau sei gestorben.
    So steigen Delfina und Bubi zusammen mit dem Vater in den Bus. In diesem Augenblick leidet Esma zum ersten Mal unter Atemnot. Sie liegt im Bett, als sie plötzlich keine Luft mehr bekommt. Sie zittert, schwitzt und ringt verzweifelt nach Atem. Ihre Lunge ächzt. Sie rufen schnell nach dem Dorfarzt, der ihr eine Spritze gibt, so gelangt schließlich wieder Sauerstoff in Esmas Lunge. Der Arzt sagt, sie leide unter Asthma. Die Dorffrauen deuten es anders.
    »Hysterische Anfälle, weil ihr gewisse Dinge fehlen. Diese Kurva ist wirklich ans Übel gewöhnt.«
    Esma erträgt alles zwischen einem Anfall und dem nächsten. In ihrer Familie herrscht eine Art Fatalismus: Wenn etwas geschieht, musst du es hinnehmen und fertig. Du kannst nur darauf warten, dass es vergeht. So wartet sie darauf, dass die Anfälle vorübergehen, so wie sie darauf wartet, dass ihr Leben vergeht.
    Nach einem Jahr kommt der Oberst zurück ins Dorf, die Mutter hat eine andere Braut für ihn gefunden. Sie kommt aus einem Nachbarort, ein junges Mädchen, das keiner kennt.
    Esma nimmt die Nachricht gleichgültig auf, es geht sie schließlich nichts an. Auch um ihre Hand wurde hier und da angehalten, aber es waren immer alte Witwer, die eine Frau im Haus brauchten. Auch wenn sie jung gewesen wären, hätte das nicht viel geändert. Esma hat die Portion Glück, die ihr in diesem Leben zustand, bereits bekommen, nach dem Oberst wäre jeder Mann eine Qual. Deshalb begnügt sie sich damit, bei sich daheim zu atmen, bisweilen ohne Hilfe, bisweilen mit Asthma-Spray.
    Die neue Hochzeit des Oberst erregt keinerlei Aufsehen. Sie verläuft in aller Stille. Für ihn ist sie ein notwendiger Schritt, nicht nur um der Mutter zu gehorchen, sondern auch weil er es nicht mehr schafft, sich um den Haushalt und die Töchter zu kümmern.
    Bevor er mit der neuen Ehefrau abreist, geht er allein die Töchter abholen, die bei Esma sind. Sie warten hinter dem Gatter auf ihn, zusammen mit Großmutter Meliha. Der Oberst steuert direkt auf die Ex-Schwiegermutter zu und sagt:
    »Hol Esma her, ich muss mit ihr sprechen.«
    Meliha sagt nichts, und nach kurzer Zeit tritt Esma aus der Tür. Sie ist mager und abgezehrt, sie besteht wirklich aus Porzellan. So durchscheinend und zart ist sie, dass sie von einem Augenblick zum anderen zu zerbrechen scheint. Es ist das erste Mal, dass der Oberst sie wiedersieht. Er spürt einen Schmerz im Leib, einen Schmerz, der langsam zum Herzen hinaufsteigt. Jenen Schmerz, der ihn für den Rest seiner Tage nicht mehr loslassen, den er immer mit einem unwiederbringlichen Verlust verbinden wird. So unwiederbringlich wie der Tod.
    »Esma«, beginnt er, »wir gehören für immer zusammen. Meine Esma, verzeih mir, wenn du kannst.«
    »Schon geschehen«, sind die einzigen Worte, die Esma an diesem Abend zum Oberst sagt. Und auch die einzigen

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