Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)
ihr die Mutter überlassen hat. Es ist offenbar Schicksal, dass so viele Dinge, die der Schwester gehörten, auf sie übergehen …
Saba öffnet ihre große Metalltruhe, ein Überbleibsel aus irgendeinem Krieg, und stöbert ohne aufzuschauen darin herum. Sie stöbert mit dem Blick der Ausgewanderten, die aus der Ferne zurückgekehrt ist. Sie findet Kleider, viele bunte Kleider, für die Sonntage oder die Xhuma , zerbrochene Spiegel, zerbrochen wie der Traum von der Rückkehr ins Vaterland, das auf jene kümmerlichen Überreste zusammengeschrumpft ist.
Sie zieht viele nützliche und nutzlose Dinge hervor, die sie im Lauf der Jahre gesammelt und dort hineingestopft hat, so viele Erinnerungen. Saba gehört nicht zu denen, die sich allzu sehr an die Vergangenheit klammern, sie versucht nur das aufzuheben, was sie noch gebrauchen kann. Ein Tischtuch, auf das mit unsicherer Hand gelbe Ähren gestickt sind. Sie möchte es behalten, es ist ihre erste Arbeit, Bedena hatte ihr das Sticken beigebracht, sie war damals zehn Jahre alt.
Aus der Truhe kommt auch eine große Schachtel zum Vorschein, die von einem rosafarbenen Band zusammengehalten wird. Der Geruch von Mottenkugeln vermischt sich mit dem Duft nach frischen Quitten. Es riecht nach Dingen, die lange Zeit vergraben waren, Dinge, die man später bereut, entweiht zu haben. Vorsichtig öffnet sie die Schachtel und findet eine vergoldete Weste, die nach all den Jahren noch kleiner geworden zu sein scheint, eine Weste für die Puppen, die sie nie gehabt hat. Aber nein, sie hatte eine Puppe, sie sieht aus wie die Weste der Puppe mit dem roten Mund, die sie eines Nachmittags, als sie aus der Schule kam, verbrannt hatte. Dann taucht ein roter Schleier auf. Das Einzige, wonach ihre Augen suchen, sind Mottenlöcher. Dieses Kleidungsstück liegt seit über einem halben Jahrhundert hier, vielleicht hofft sie, irgendwelche Löcher zu finden, damit sie es endlich wegwerfen kann.
»Du warst schön damals, an jenem Tag«, kommt eine keuchende Stimme aus dem Dunkeln.
Saba erschrickt nicht, als sie ihn hört, sie weiß nie, wann er schläft und wann er wach ist. Omer liegt immer im Bett.
»Ich glaube nicht, dass du dich erinnern kannst, wie willst du dich an etwas erinnern, das du nicht gesehen hast«, erwidert sie ruhig.
»Vielleicht hast du recht, ich habe dich nie angeschaut, so ganz in Rot, dennoch ist die einzige Erinnerung, die ich von dir als jungem Mädchen habe, die mit diesem Kleid«, sagt er. »Ich werde diese Erinnerung mit ins Jenseits nehmen.«
»Du wirst dort keine Zeit haben, an mich zu denken, dort sind Leute, die seit einer Ewigkeit auf dich warten«, sagt Saba. »Außerdem möchte ich nicht, dass du an mich denkst. Du hast ein Leben an meiner Seite in Gedanken an eine andere verbracht, willst du noch eins an der Seite einer anderen und in Gedanken an mich verbringen?«
»Ich bringe die Zeiten durcheinander«, lächelt er.
»Vielleicht auch nicht«, antwortet sie.
Dann muss sie weinen. Nicht wegen des roten Kleides, nicht weil sie ihr Leben mit einem Mann verbracht hat, der es nie verstanden hat, sie zu lieben. Sie weint einfach so, in Gedanken an die gute oder die vertane Zeit, der ewigen Nacht wegen, die Omer nicht das zurückgeben wird, was sie ihm genommen hat, sie weint um die Rüben in ihrem Garten, wo der Ehemann saß und die Pfeife rauchte. Sie weint seinetwegen, ihrer selbst wegen und ihrer beider wegen.
Dann tut sie etwas, das sie noch nie getan hat. Sie lässt den roten Schleier zu Boden fallen und tritt an das Bett, auf dem der Ehemann liegt. Sie legt sich neben ihn, nimmt sein Gesicht zwischen ihre Hände. Sie streichelt seine Falten, sie streichelt die ohne Liebe verlorenen Jahre. Sie möchte für immer neben ihm einschlafen, wie das Kind, das sie einst war, möchte ihr Streicheln eins werden lassen mit der Brandung der Nacht.
ZWEITER TEIL
Eins
An ihrem Hochzeitstag trug meine Mutter ein schlichtes beigefarbenes Kostüm und keinen Schleier im Haar. Nicht einmal eine Blüte. Mamas Wahl hatte nichts mit der feministischen Bewegung zu tun, die weiße Hochzeiten ablehnte. Damals ahnte sie noch nichts von deren Existenz. Sie gehörte zur Avantgarde, ohne es zu wissen.
Man schrieb das Jahr 1971, und während die Wandlung zum neuen Menschen immer weiter voranschritt, hatte das Zentralkomitee der Partei den bürgerlich konservativen Brauch des unseligen weißen Hochzeitskleides abgeschafft. Mama war an diesem Tag nur eine Gefährtin, die ihren
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