Rote Gruetze mit Schuss
Wiesenstück stehen schon fünf Strandkörbe für den Sommer bereit. Außerdem gibt es einen Holzsteg, auf dem man beim Baden seine Klamotten liegen lassen kann.
Leif geht zu dem DLRG-Häuschen und steigt die paar Holzstufen nach oben. Die Tür ist offen. Nur im Sommer, wenn das Haus während der Hochwasserzeitenmit einem Bademeister besetzt ist, wird das Kabuff abgeschlossen. Er setzt sich auf die Holzbank. Durch einen breiten Schlitz hat er die Badestelle und das Meer gut im Blick. Um auf den Parkplatz zu sehen, müsste er die Tür öffnen. Das will er unbedingt vermeiden.
Leif zieht den Reißverschluss seines Anoraks bis unters Kinn. Durch das Fahrradfahren war er erhitzt gewesen, aber jetzt wird ihm kalt. Er vergräbt die Hände in den Taschen. Die kalten Finger seiner linken Hand umfassen einen Schlüssel. Alexandras Schlüssel? Er hat ihn noch, das hatte er ganz vergessen. Er zieht ihn heraus. Es ist ein Sicherheitsschlüssel mit einem Plastikanhänger. »Salon« steht auf dem eingeschobenen Zettelchen.
Wehmütig betrachtet er den Schlüsselanhänger. Meist hatten Alexandra und er sich ja in der alten Remise getroffen. Aber das erste Mal richtig nähergekommen waren sie sich nach einer feuchtfröhlichen Nikolausfeier in Alexandras Salon auf einem der beiden Friseurstühle, die jetzt dem Turbobräuner »Acapulco« Platz machen mussten. Wahrscheinlich sollte er den Schlüssel Alexandra zurückgeben. Sie brauchten ihn ja jetzt nicht mehr.
Fast eine Stunde lang sitzt Leif auf der Holzbank. Ihn fröstelt immer mehr, und er wird nervös. Plötzlich durchschneidet das Geräusch eines Motors die Stille. Das Auto kann Leif durch die Fensteröffnung nicht sehen, nur das Licht der Scheinwerfer. Aber das Motorengeräusch glaubt er zu erkennen. Es ist derselbe Wagen wie in der Nacht vor der Remise, da ist er sich sicher. Die Scheinwerfer werden ausgeschaltet, die Autotürschlägt zu. Das Schreien der Krähen hallt durch die Nacht. Dann ist wieder Stille. Es passiert gar nichts.
Leif hockt erstarrt auf seinem DLRG-Hochsitz und drückt sich atemlos an den Sehschlitz. Durch den Nebel ist sowieso kaum etwas zu sehen, nicht einmal der blöde DLRG-Kasten. Plötzlich bemerkt er eine Gestalt, die über die Wiese auf den Rettungskasten zuläuft. Trotz der eingeschränkten Sicht erkennt Ketels sie sofort an dem steifen, leicht stolpernden Gang. Und als dann der Mond kurz durch die Nebelschwaden bricht, leuchtet vor dem Watt ein moosgrüner Steppmantel auf.
Leif Ketels hatte es ja schon geahnt. Es war Onno von Rissen gewesen, der in jener Nacht seinen Landrover vor der Remise geparkt hatte. Er musste auch der Mörder von Brodersen sein.
In dem Moment zuckt Leif erschrocken von seinem Sehschlitz zurück. Die Gestalt ist stehen geblieben und blickt zum Bademeisterhaus. Die Nebelschwaden sind wieder dichter geworden, aber Ketels kann erkennen, dass der Mann zur Rettungsbox geht, sie öffnet und ein Kuvert hineinlegt. Ketels’ Puls erhöht sich. Unglaublich! Sein Plan scheint tatsächlich aufzugehen. Dann geht der Mann zurück, blickt sich noch einmal um und verschwindet aus seinem Blickfeld. Leif hört, wie der Motor angelassen wird und die Reifen auf dem Sand knirschen.
Er wartet einen Moment, dann öffnet er die Tür des Bademeisterhauses und will gerade die Holzstufen hinuntersteigen, als er zwei Scheinwerfer über die Brücke Richtung Parkplatz kommen sieht. Schnell zieht er sichwieder in sein Versteck zurück und schließt die Tür. Ist von Rissen noch einmal umgekehrt? Hat er es sich womöglich anders überlegt?
Das Motorengeräusch erstirbt, aber die Scheinwerfer bleiben diesmal aufgeblendet. Eine Person hastet durch den Lichtkegel, und Leif traut seinen Augen nicht. Verdammte Scheiße, was geht hier vor? Es ist der Hamburger Professor, der jetzt mit einem Kuvert in der Hand Kurs auf den Rettungskasten nimmt. Ein kleiner Schwarm Eiderenten fliegt in dem Augenblick über die Badestelle hinweg, als Müller-Siemsen die Box öffnet und von Rissens Umschlag entdeckt. Leif beobachtet, wie der Professor das erste Kuvert herausnimmt und öffnet. Zu seinem Erstaunen scheinen es keine Geldscheine zu sein, die Müller-Siemsen da zutage fördert, sondern eher Zeitungspapier. Leif versteht die Welt nicht mehr, als der Professor die beiden Kuverts austauscht und sein eigenes in der Box deponiert. Dann schließt er den Kasten sorgfältig. Ein bisschen ratlos starrt er auf von Rissens Kuvert, dann wirft er es in den Papierkorb, der
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