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Rückkehr nach Killybegs

Rückkehr nach Killybegs

Titel: Rückkehr nach Killybegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sorj Chalandon
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seine Soldaten aufmarschieren lässt, dachte ich.
    »Brauchst du Hilfe?«
    Ich sah Tom an, ohne zu antworten. Ein großer Junge mit braunem Haar, kaum älter als ich. Er nahm mir die Matratze vom Kopf und wir trugen sie gemeinsam bis zur Nr. 17, wo eine rot-schwarze Tür für uns offen stand.
    Mein Onkel war völlig fertig. So hatte ich ihn noch nie erlebt. An eine Laterne gelehnt, starrte er auf seinen Schatten in deren orangefarbenem Licht auf dem Bürgersteig. Ihm schien alles egal zu sein. Ein paar Männer standen um ihn herum. Einer hatte die Hand auf seine Schulter gelegt. Lawrence hatte uns aus der Hölle gerettet. Jetzt, wo wir in Sicherheit waren, kam er wieder zu Atem. Kälte und Angst setzten ihm zu. Sein Gesicht war von Rauch und Ruß geschwärzt, als käme er von seinem Kampf mit den Schornsteinen nach Hause. Er war allein. Und hatte alles verloren.
    Tom legte die Matratze in einer Ecke des Zimmers ab. Er hatte sie allein getragen, ich war nur hinterhergegangen. Ich betrachtete unsere neue Straße, die Gesichter der Nachbarn, die beruhigenden Marienfiguren in den vereisten Fenstern.
    »Es ist nicht groß, aber hier könnt ihr wenigstens atmen«, sagte Tom.
    Er hatte die Fäuste in die Hüften gestemmt und alles im Blick, als wäre er für das Viertel verantwortlich.
    »Hier haben wir nichts zu befürchten, oder?«, fragte ihn meine Mutter.
    Er lächelte. Hier? Hier könne uns nie etwas passieren. Wir seien zu Hause, mitten im Ghetto. Geschützt durch unsere Zahl und unseren Zorn.
    »Und durch die IRA«, ergänzte er lächelnd.
    Die IRA. Ich schrak zusammen. Lawrence bemerkte es. Erzuckte die Achseln und bat mich, ihm den Tisch hineintragen zu helfen, statt hier herumzustehen.
    Die IRA. Das war auf einmal mehr als nur drei schwarze Buchstaben, aus Hass an unser Haus geschmiert. Mehr als das, was im Radio verdammt wurde. Nicht mehr Angst einflößend, nicht mehr beleidigend, nicht mehr Synonym für das Böse. Sondern Hoffnung und Versprechen. Die Essenz meines Vaters, sein ganzes Leben, sein Andenken und seine Legende. Sein Schmerz, seine Niederlage, die besiegte Armee unseres Landes. Nie hatte ich gehört, dass jemand außer ihm diese drei Buchstaben in den Mund nahm. Und auf einmal wagte ein Junge meines Alters, sie auf offener Straße lächelnd auszusprechen.
    Die IRA. Plötzlich sah ich sie überall. In dem mit Decken beladenen Pfeifenraucher. Den Frauen in ihren Wolltüchern, die uns mit ihrem Schweigen umgaben. Dem alten Mann, der auf dem Bürgersteig hockte und unsere Öllampe reparierte. Den Jungen, die uns nach der Vertreibung halfen. Ich sah sie hinter jedem Fenster, hinter jedem zugezogenen Vorhang, der die Flieger täuschen sollte. Spürte sie in der torfgeschwängerten Luft. Im anbrechenden Morgen. In mir. In mir, Tyrone Meehan, sechzehn, Sohn des Patraig Meehan und der irischen Erde. Von der Armut aus meinem Dorf vertrieben, vom Feind aus meinem Viertel verbannt. Ich, die IRA.
    Ich streckte Tom die Hand hin. Wie zwei Männer, die einen Handel besiegeln. Er schaute sie an, schaute mich an, zögerte. Dann lächelte er noch einmal. Seine Hand war eiskalt, sein Händedruck fest.
    »Tyrone Meehan«, sagte ich.
    Wir standen mitten auf der Straße. In diesem Augenblickhätte ich mich gern selbst gesehen. Mit meiner ausgestreckten Hand, meiner ersten männlichen Geste.
    »Tom Williams«, sagte Tom. Er sah mich einen Moment lang an und fügte hinzu: »Leutnant Thomas Joseph Williams, Kompanie C, Zweites Bataillon der Belfast-Brigade der irisch-republikanischen Armee.«
    Er lachte über meine riesigen Augen.
    »Ich bin neunzehn. Sag einfach Tom zu mir.«
    *
    Am 10. Januar 1942, vier Tage nach unserer Ankunft in der Dholpur Lane, schloss ich mich der IRA an. Na ja, nicht ganz. Ich war noch zu jung. Keiner im Viertel kannte uns. Die Vertreibung durch die Loyalisten war kein ausreichender Grund, uns zu vertrauen. Wie Tom und viele andere IRA-Volunteers vor mir wurde ich erst Mitglied der Na Fianna hÉireann , der Scouts der Republik. Seit 1939 war die Bewegung sehr geschwächt. In der Republik und in Nordirland war sie verboten, beidseits der Grenze wurden ihre Mitglieder verfolgt und eingesperrt. Diejenigen, die schon mal in britischen Gefängnissen waren, erzählten, die irischen stünden ihnen in nichts nach.
    Jedes republikanische Viertel hatte seine eigene Jugendeinheit. Die IRA war in Brigaden und Bataillone gegliedert, unsere Einheiten hießen cumann.
    Unser Lokal in der Kane Street war winzig und

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