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Rückkehr nach Killybegs

Rückkehr nach Killybegs

Titel: Rückkehr nach Killybegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sorj Chalandon
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unsere Fahne wieder wehen. Entscheidend sei doch, dass unsere Kinder freikämen und ihre Väter nicht mehr stürben.
    Jack sah mich an. Ich starrte auf die Straße. Dafür das alles? Es war ein Anfang, gab ich ihm zur Antwort. Ein neuer Anfang sei nötig gewesen. Nun gebe es keine bewaffneten Patrouillen mehr in unseren Straßen, keine Razzien, keine Kontrollen. Die Briten bauten ihre Kasernen ab und die Wachtürme an den Grenzen. Polizisten verteilten Strafzettel an Falschparker in der Falls Road. Kannst du dir das vorstellen? Knöllchen unter den Scheibenwischern wie in London oder Liverpool! Und weißt du was? Jacky Nolan und John McIntyre, deine Schulkameraden, sind zur Polizei gegangen. Nicht mehr nur Protestanten, auch Katholiken ziehen die Uniform an. Und das ändert doch alles, meinst du nicht? Aber Jack hob eine Hand und bat mich zu schweigen.
    Lange hat er nur mit dem Rücken zu uns und dem Gesicht zur Wand gegessen. Er fand essen obszön. Neun Jahre hatte er in totaler Isolation verbracht. Zuerst sprach er nur mit sich selbst. Bewegte sich kaum. Legte die Matratze auf den Boden seines Zimmers. Er versuchte, sich ein Leben mit Fiona aufzubauen, einer Freundin aus seiner Kindheit. Dann mit Lucie. Schließlich mit uns. Mit siebenundvierzig Jahren ist er nach Hause zurückgekehrt. Nachdem er erst Späher, dann Fianna, óglach , Leutnant und Hauptmann der republikanischen irischen Armee war, ist er heute Türsteher in einem Pub in Belfast. Trennt prügelnde, besoffene Jungs, die ihn fragen, für wen er sich hält. Und ihn daran erinnern, dass es keine IRA mehr gibt, die ihn verteidigen könnte. Dass er ein Pinguin inschwarzem Anzug und weißem Hemd ist. Ein Niemand. Und er sagt nichts darauf.
    *
    Endlich stand Jack auf. Sah mich an. Zog Anorak und Handschuhe an. Die Stunde war noch nicht um. Sheila hatte noch nicht auf der Straße gehupt.
    »Warte zumindest, bis deine Mutter da ist.«
    »Meine Mutter? Meine Mutter ist all die Jahre neben einem Fremden aufgewacht. Weißt du das? Verstehst du das? Sie ist wie tot!«
    »Ich verstehe.«
    »Nein! Du verstehst gar nichts! Du begreifst nichts! Du kannst gar nicht wissen, wie es ist, wenn man keinen Vater mehr hat, keinen Ehemann, nichts mehr! Mein Vater? Das war Tyrone Meehan! Der große Tyrone! Scheißheld, ja! Er hatte unsere Liebe, unser Vertrauen, unseren Stolz. Wir haben dir alles gegeben! Und du hast die, die dich geliebt und geschützt haben, verraten! Erinnerst du dich, als ich klein war, habe ich dir jede Nacht geholfen, unsere Eingangstür zu verbarrikadieren, damit diese Schweine nicht in unser Haus kamen. Und du? Du hast mit diesen Schweinen gemeinsame Sache gemacht!«
    »Ich verstehe.«
    »Weißt du, wie sie dich in Belfast nennen? Den Mann. Niemand spricht mehr unseren Namen aus. Wir sind die Familie des Verräters.«
    »Ich weiß.«
    »Was sollen wir tun, Mama und ich? Wie sollen wir damit fertigwerden?«
    »Ihr werdet ohne mich weitermachen.«
    »Wir werden nie wieder Licht sehen.«
    Ich senkte den Kopf. Seit dem Morgen rumorte ein altes Sprichwort in meinem Bauch. »Gibt es ein Leben vor dem Tod?« Tom Williams hatte uns das gelehrt, damit wir die Hoffnung nicht sinken ließen.
    Jack ging zur Tür.
    »Ich brauche dich, mein Sohn.«
    Er blieb stehen, vor dem Riegel, dem Schloss und den doppelten Ketten, die ich an der Tür angebracht hatte. Den Rücken mir zugewandt, mit hängenden Schultern. Sein Seufzen. Und dieses Schweigen. Es dauerte lange. Er legte die Faust an die Wand und verbarg seinen Kopf in der Armbeuge. Er weinte nicht.
    »Ich kann nicht. Es tut zu weh. Es ist einfach zu schrecklich, was du uns angetan hast, Papa.«
    »Ich brauche euch.«
    Er drehte sich noch ein letztes Mal um. Schön wie der Zorn. Wenn er aus der Tür wäre, würde ich ihn nie wiedersehen, das wusste ich. Also stand ich auch auf. Suchte nach einem Satz, einem Wort. Er trat in den Raureif hinaus. Stand auf der Schwelle, die Hände in den Taschen, vom Wald erdrückt.
    »Jack?«
    Er zuckte die Schultern.
    »Ich liebe dich.«
    Das war alles, was mir geblieben war.
    Er sah mich an, sprachlos, den Kopf zur Seite geneigt, wie als er noch klein war.
    »Ich liebe dich«, wiederholte ich.
    Er runzelte die Stirn. Schien nicht zu verstehen. Ging rückwärts zu dem Weg, der auf die Straße führt. Sagte kein Wort. Sah mich beim Gehen an. Er war dabei, das Haus, seine Kindheit, den alten Brunnen, die zärtlichen Kerzenflammen, die Zwerge, den Wald zu verlassen, das Dorf seiner Ahnen,

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