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Rückkehr nach Killybegs

Rückkehr nach Killybegs

Titel: Rückkehr nach Killybegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sorj Chalandon
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unsere Blicke begegneten sich.
    Vorhin, als Sheila ihn vor dem Haus abgesetzt hatte, betrachtete er die große Tanne, das Haus meines Vaters, den Himmel meines Landes, meinem Blick aber wich er aus, und ich suchte seinen nicht. Ich schloss die Tür ab, wandte ihm den Rücken und ging Richtung Wald, die Axt auf der Schulter.
    »Wir holen Holz für den Kamin.«
    Er folgte mir.
    Ich fürchtete diesen Blick. Aber er interessierte mich auch.
    Ich hatte Antoine seit dem 10. Juli 2006 nicht mehr gesehen. Da hatte ich ihn nach Long Kesh mitgenommen. Seit dem Friedensprozess war das Gefängnis leer. Wie Jack waren dieletzten Kriegsgefangenen sechs Jahre zuvor entlassen worden. Übrig geblieben waren die Gebäude, die Wachtürme, die Mauern mit dem Stacheldraht und unser aller Spuren.
    Als wir die Zelle Nummer 8 verließen, in der Bobby Sands gestorben war, war Antoine völlig aufgewühlt. Ich legte ihm den Arm um die Schultern und sagte »Sohn« zu ihm. Den Kosenamen hatte ich ihm vor dreißig Jahren gegeben. Als er den Schnaps besang und mich seinen irischen Vater nannte. Doch diesmal hatte er eine andere Bedeutung.
    Vor dem Gefängnistor sagte ich zu ihm: »Ich liebe dich.«
    Er sah mich an. Wollte etwas sagen. Ein Wort, das die Stille zerstörte.
    »Ich liebe dich«, wiederholte ich.
    Aber er blieb stumm.
    Mein Verräterdasein neigte sich dem Ende zu. In ein paar Monaten oder Wochen würde es vorbei sein. Nach über zwanzig Jahren war ich dem Feind nicht mehr von Nutzen. Er würde mich fallenlassen, mich verkaufen. Antoines Blick war einer der schönsten gewesen, die mich jemals getroffen hatten, und auch einer der letzten.
    Wenn er mich ansah, mochte ich mich. Ich mochte mich in dem, was er von mir glaubte, was er über mich sagte, was er sich erhoffte. Ich mochte mich, als er an meiner Seite marschierte wie der Adjutant eines Generals. Als er sich um mich kümmerte. Mich mit seiner Unschuld beschützte. Ich mochte mich in seinen Aufmerksamkeiten, seinem Stolz auf mich. Ich mochte mich in dieser Würde, die er mir zugestand, in diesem Mut, dieser Ehre. Ich mochte an ihm alles, was sein Herz über mich sagte. Wenn Antoine mich ansah, sah er den siegreichen Fianna, den Gefährten von TomWilliams, den Rebellen von Crumlin, den Unbeugsamen von Long Kesh. Wenn er mich ansah, war Danny Finley lebendig.
    Doch nun, in Killybegs, war der Blick des kleinen Franzosen erloschen. Er kämpfte mit seinen Ästen, ich mit meinem Baumstumpf. Er sah mich nicht mehr. Er suchte den Verräter. Ich lächelte ihm zu. Ich weiß nicht, warum. Ich machte Feuer. Wind drückte den weißen Rauch nach unten.
    »Du kannst dich hinsetzen«, sagte ich.
    Er nahm am Tisch meines Vaters Platz, die Hände zwischen den Beinen. Ich setzte meine weiche Mütze ab und stopfte sie in die Hosentasche.
    »Wenn der Franzose das will, ist er willkommen.«
    Father Byrne hatte die Nachricht weitergegeben, und jetzt war Antoine da, schwer beladen mit seinem Schweigen.
    »Was möchtest du wissen? Ich höre dir zu, Sohn.«
    Ich wandte ihm den Rücken zu und beugte mich über das feuchte Holz.
    »Nichts.«
    In seiner Stimme lag ein Zittern.
    Ich schenkte ihm Tee ein. Er betrachtete die Wand, ich den Boden. Unsere Blicke waren nicht mehr füreinander bestimmt.
    »Willst du wissen, ob meinetwegen Republikaner sterben mussten?«
    »Nein!«
    Er schrie fast, mit erhobener Hand. Und stieß dabei seine Tasse um. Der heiße Tee lief auf seine Schenkel. Kein Laut, nichts. Er schob seinen Stuhl zurück.
    »Willst du es nicht wissen?«
    Er beobachtete die Flüssigkeit, die auf den Lehmboden tropfte.
    »Du willst nicht?«
    »Ich weiß nicht.«
    Er wusste es nicht. Er war weder zornig noch traurig. Er war verloren. Wie ein Kind im tiefen Wald. In Belfast hatte ihn die IRA gewarnt. Wenn er versuchen sollte, mich zu treffen, würde er verbannt. Von einem Verräter wendet man sich ab, man spricht nicht mit ihm. Man fährt nicht quer durchs Land, um seinen Blick zu erforschen. Man fragt ihn nichts. So einer ist krank. Wer mit ihm in Berührung kommt, wird infiziert. Ihn sehen heißt ihn zu verstehen. Ihm zuhören heißt selbst zum Verräter zu werden.
    »Du weißt, dass du nicht nach Irland zurückkannst?«
    Ich lehnte mit dem Rücken an der Wand. Er nickte. Ja, natürlich, das wisse er.
    Seit ich ihm vor zwanzig Jahren die gleiche Mütze gekauft hatte wie meine, hatte ich ihn immer damit gesehen. Es war seine Verkleidung als Ire. In Belfast glaubte er, dass sie ihn zu einem der Unseren

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