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Rückkehr nach Killybegs

Rückkehr nach Killybegs

Titel: Rückkehr nach Killybegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sorj Chalandon
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sondern passte auf. Schildwache statt Soldat. Ich stand auf. Ließ meinen Blick über die Menge schweifen. Er fühlte sich, als wäre er aus einer anderen Welt, einer anderen Geschichte, einem Geheimnis. Er war im Krieg, sie waren im Frieden. Und sein Anführer war auch da, geschützt durch ihre Ahnungslosigkeit. Welcher Stolz!
    Ich trat auf den Bahnsteig. Er wachte. Seine Augen flüsterten, alles ruhig, keine Gefahr. Keiner war mir gefolgt. Als die Metro wieder anfuhr, nickte er. Eine kaum merkliche Bewegung, ein Zeichen zwischen ihm und mir. Und ich sah ihn in dem überfüllten Wagen stehen mit seiner Mütze, seinem Lächelnauf den Lippen und der Gewissheit, unsere Republik beschützt zu haben.
    Von diesem Blickwechsel habe ich lange geträumt. Und nicht einmal Waldner oder Honoré etwas gestanden. Ein paar Wochen später, in Belfast, nahm ich Antoine beiseite. Er dürfe meine Anwesenheit in Frankreich niemandem verraten. Niemals. Nicht einmal unseren Genossen. Das sei zwar die Regel, wenn er mich beherberge, diesmal aber noch wichtiger. Er verstand das. Natürlich. Er hörte auf Tyrone Meehan, so selbstverständlich, wie man bei den ersten Noten der Nationalhymne Haltung annimmt. Er versuchte nicht, meinen Krieg zu begreifen, er lebte seinen eigenen.
    Ich hätte ihm all das sagen können. Ich schuldete ihm einen Teil der Wahrheit. Ich schuldete ihm einen anderen Blick, den echten, den eines befleckten Wesens. Den eines Ehr- und Treulosen. Er sollte diesem Blick begegnen. Ihn kennenlernen. Genauso wie den schwachen und gehetzten Menschen. Indem ich ihn in meine Höhle einlud, schenkte ich ihm, was von mir übrig war.
    »Du weißt, dass ich sterben werde, Sohn?«
    Aus seinem Schweigen hörte ich ein Nein.
    »Mein Gott! Du weißt wirklich nichts von diesem Land …«
    Ich löste mich von der Kalkwand.
    Sheila hatte gerade gehupt. Sie wollte nicht hereinkommen. Sie war gegen diesen Besuch. Sie verstand nicht, warum ich einen Fremden zu mir ließ.
    Antoine erhob sich. Er fror, seine Lippen waren grau. Ich ging zur Tür und öffnete sie. Zögerte es hinaus. Ich wusste, das dies unser letztes Mal war.
    »Du hast mir nicht geantwortet«, murmelte Antoine.
    Mein eisiger Körper, ein Grabeskörper. Ein Schmerz. Wie ein Messer vom Hals bis ins Herz. Ich breitete meine Arme aus. Für ihn. Und für Jack, der mir fehlte.
    Stumm suchte er darin Schutz. Meine feuchte Jacke, mein alter Wollpullover, mein Winterschal, sein eisiger Mantel. Ich fühlte die schäbigen Decken von Long Kesh. Diese ekelhafte Mischung aus Sauer, Mann und Hund. So verharrten wir.
    Ich hätte ihm antworten können.
    Er war für mich zugleich der Fremde und mein Volk. Der, der mich gesehen hatte, und der, der mich niemals mehr sehen würde. Er war der kleine Franzose und dieses ganze Irland, dem er Schritt für Schritt folgte. Ein bisschen Belfast, ein bisschen Killybegs, ein bisschen von unseren alten Gefangenen, unseren Märschen, unserem Zorn. Er war Mickeys Blick und Jims Lächeln. Er war in unseren Siegen und unseren Niederlagen. Er liebte dieses Land so sehr, dass er ein Teil davon war.
    War das Freundschaft? Darauf hatte ich keine Antwort. Hatte ich diese Liebe verraten? Natürlich hatte ich sie verraten. Ich hatte mich hinter Antoine versteckt, hinter seinem Mut und seinen Überzeugungen. Reue oder Bedauern darüber konnte ich nicht empfinden. Auch für eine Entschuldigung oder einen Anfall von Gewissen war es zu spät. Der Verräter und der Verratene eng umschlungen. Ja, der Mann in der Pariser Metro hatte ihn benutzt. Na und? Was änderte das an dieser traurigen Umarmung?
    Antoine trug seinen Stadtmantel, seine zu kurze Hose, seine schwarzen Wollhandschuhe. Ich hatte einen gebeugtenRücken, wirre Haare, meine weiche Mütze und eine knittrige Hose, die in schlammigen Stiefeln steckte. Sanft schob ich ihn weg. Er schenkte mir einen Blick, den ich nicht wollte.
    Ich kehrte ihm den Rücken und hob eine Hand zum Abschied.
    Sollten sie doch kommen, sollte der Tod mich doch holen. Mir war es gleich.

19
    Ich hatte den kleinen Franzosen im »Thomas Ashe« kennengelernt, im April 1977. Später hat er behauptet, ich hätte ihm an jenem Abend das Pissen beigebracht, aber daran kann ich mich überhaupt nicht mehr erinnern. Ich habe ihn von Weitem gesehen, er saß ganz hinten mit Jim O’Leary, unserem Sprengmeister, und Cathy, dessen Frau. Er und zwei baskische Sympathisanten, die in der Menge untergingen, waren die Einzigen, die republikanische T-Shirts

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