Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)
wie alle verwöhnten Kinder krittelst du an jedem Geschenk, das du bekommst, herum und treibst Schindluder damit. Und genau da liegt der Hase im Pfeffer: Du bist kein Kind mehr, und das Geschenk, mit dem du dieses Wochenende Schindluder getrieben hast, ist kein Spielzeug, sondern deine Ehe. Wenn du sie kaputt machst, gibt es keinen Ersatz dafür.«
Sie schloss die Tür hinter sich. Im Treppenhaus atmete sie tief durch. Die Luft in dem kleinen Schlafzimmer war stickig gewesen, mit Parfüm verpestet. Wie hielt Sophie es nur aus, dort stundenlang zu liegen? Kein Wunder, dass sie Kopfschmerzen hatte. Sie schuf sich aus freien Stücken ein Gefängnis und strafte sich selbst damit. Auf diese Weise verschloss sie sich allen realen Möglichkeiten; wenn sie so weitermachte, würde sie niemals glücklich.
Ich habe so viel mehr Glück .
Der Gedanke war ungewohnt und kam überraschend. Doch es war die Wahrheit: Als sie zur Treppe lief, fühlte sie sich glücklich. Es war doch noch nicht zu spät für ihre Träume. Die Ängste, die sie auf Mrs Ogilvies Dach noch gehemmt hatten, waren verblasst. Und sie fühlte sich auch nicht mehr zu alt und runzelig, um ihr Herz aufs Spiel zu setzen. Was war Würde schon im Vergleich zu der Chance auf Glück? Nur eine andere Art von Gefängnis: ehrenwert, steril und feige.
Sie musste lächeln. Sie lachte laut. So fühlte es sich also an, wenn Logik und Instinkt übereinstimmten. Ana war unter der Haube. Für Papa konnte sie gegenwärtig nichts tun. Doch mit unerschütterlicher Gewissheit wusste sie, was sie für sich selbst tun musste.
Die Abenddämmerung legte sich über London wie kühlende, sanfte Hände, welche die Stadt mit blauer Dunkelheit umschlossen. Er blickte durch die gläsernen Wände seines Wintergartens zum Himmel. Die Akazien hatten jetzt Knospen. Wusstest du, dass sie süß duften? Die Klarheit ihrer Ränder faszinierte ihn. Mit Alkohol würde sich das vermutlich geben. Bis zur Dämmerung war er immer gern betrunken. An dem Abend, als man ihm die Nachricht überbracht hatte, war es auch schon dämmrig gewesen. Ein Himmel mit der Farbe der Lippen eines Ertrunkenen. Elizabeth hatte am Klavier gesessen und irgendeine Melodie gespielt – ein schrilles Geklimper, eine kalte Melodie mit den hohen Tönen der Tastatur. Damals waren alle Teppiche aufgerollt, um sie auszuklopfen, und die Holzdielen hatten starrend vor frischem Wachs unter seinen Füßen geknarrt.
Sein Vater hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihm die Nachricht persönlich zu überbringen. Ein Stück Papier aus der behandschuhten Hand eines Mannes, dessen Namen er bis zum heutigen Tag nicht kannte – so hatte er davon erfahren.
In jenem Frühling war es ungewöhnlich kalt gewesen, die Zweige noch kahl. Sie hatten an der Fensterscheibe gekratzt, ein klagender Kontrapunkt zu Elizabeths Melodie. Schwarze Tinte auf cremefarbenem Leinenpapier, das Siegel noch nicht einmal ganz trocken. Es platzte unter seinen Fingern auf wie fauliges Obst und spie eine nüchterne, kurze Nachricht aus. Er hatte sie viermal gelesen, fünfmal, und doch konnte er ihre Kernaussage nicht erfassen. In Druckschrift, nicht zu bestreiten, rätselhaft.
Stella hatte ihren Mann getötet. Stella selbst war schwer verletzt – besinnungslos – und würde die Nacht wahrscheinlich nicht überleben.
Erstaunlich, dass solche Gräuel ganz beiläufig geschahen, an einem so langweiligen Abend. Von einem Augenblick zum anderen, während er am Fenster gesessen, an seinem Glas genippt und zugesehen hatte, wie die Sonne über St. James’s Park unterging und die schwarzen spinnenartigen Bäume verschwammen und sich zu einer dickeren Linie aus Dunkelheit verdichteten, war sie mit dem Horror konfrontiert worden. Einsam und verängstigt. Alles voller Blut. Ein Sturz die Stufen hinab, in den Ohren die eigenen gellenden Schreie.
Hatte sie in jenen Momenten an ihn gedacht? Sie hatte ihn gebeten, sie zu retten. Nicht einmal eine Woche zuvor, in ebendiesem Raum.
Und nach dem Sturz? Als sie bewusstlos dagelegen hatte, war ihr Geist an ihm vorbeigeirrt? Er hatte gelangweilt am Fenster gesessen, leicht gereizt aufgrund Elizabeths unbeirrter Beschäftigung mit der Melodie. Ohne jeden Schwung, hatte er gedacht. Lernst du es denn nie, mit beiden Händen zu spielen? Solch egoistische, kleinliche, selbstgefällige, überhebliche Gedanken.
Vier Jahre lang hatte er gehofft, dass sie es nicht mitbekommen hatte. Sie war die Treppe hinab in eine weiche, schwarze Ruhe
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