Ruf der Sehnsucht - Historical Special Bd 33
von einem Grauen gepackt, das tausend Mal stärker war als bei der Begegnung mit jener gesichtslosen Gestalt, und als sie blitzartig im Bett hochfuhr, konnte sie einen Entsetzensschrei kaum unterdrücken.
Draußen vor dem Fenster fiel immer noch leise der Schnee; in seinem kühlen Schein sah Sophie die Gestalt des Knappen, der zusammengekrümmt beim Kamin schlief. Der Ritter lag leise schnarchend auf dem Boden neben ihr. Die Szene verströmte eine solch anheimelnde, trauliche Atmosphäre, dass Sophie fast vor Rührung die Tränen kamen. Die Decke bis unters Kinn gezogen, streckte sie sich aufs Neue auf ihrem Lager aus und starrte zu den Deckenbalken, verzweifelt bemüht, ruhig und gleichmäßig zu atmen und ihrem Traum einen Sinn abzugewinnen.
War Sophie am Vortag bereits kurz angebunden gewesen, so verhielt sie sich am folgenden Morgen, kaum dass Hugues mühsam die Augen aufschlug, in seiner Gegenwart ausgesprochen launisch. Ihre Nervosität war derart ungewöhnlich, dass Hugues mit seinem bierbenebelten Hirn einige Zeit brauchte, um einigermaßen genau ihre Stimmung abzuschätzen. Als sie bei Tisch wortlos das Brot brach und ihm einen Kanten reichte, ohne ihn dabei eines Blickes zu würdigen, geschweige denn ihn zu berühren, war dies für ihn Beweis genug, dass es wohl an ihm liegen musste.
Denn seine Erinnerungen an den Abend zuvor waren bestenfalls bruchstückhaft.
Er wusste aber noch von zu Hause, wie er früher immer seine Schwestern aufgemuntert hatte. Er hatte ihnen ein Geldstück gegeben, damit sie sich etwas kaufen konnten. Es wäre wohl eine gute Idee, auch Sophie mit klingender Münze zum Lächeln zu bringen. Sein Vorschlag, doch den Markt zu besuchen, wurde nur mit einem raschen, kurzen Nicken quittiert, obwohl er, zumal bei einer Frau, eigentlich helle Begeisterung erwartet hatte. Verwirrt blickte er zu seinem Knappen hinüber. Der aber zuckte nur mit den Achseln, sodass Hugues sich vorbeugte und den Knaben, während Sophie ihren Mantel holte, über den Tisch hinweg ansprach.
„Ich hoffe doch, dass ich mich letzte Nacht nicht danebenbenommen habe“, raunte er.
Zu seiner großen Erleichterung winkte der Knappe ab. „Nicht doch, Milord“, unterstrich er verschmitzt, „nur gesungen habt Ihr.“
Ja, das war wieder mal typisch. Hugues warf Sophie einen Blick zu, sah, dass sie noch mit ihrem Umhang beschäftigt war, und runzelte unschlüssig die Stirn. Man hatte ihm schon öfters bestätigt, er habe eine schöne Singstimme; in dieser Hinsicht konnte er sie also kaum beleidigt haben.
„Was habe ich denn gesungen?“, fragte er, plötzlich besorgt, dass er womöglich eine unanständige Spelunkenzote zum Besten gegeben haben könnte. Er hatte nämlich unlängst erst eine auswendig gelernt.
„Tristan und Isolde“, zischelte Luc ihm zu, denn Sophie drehte sich argwöhnisch zu den beiden um.
Noch verwirrter als zuvor, konnte Hugues wieder nur konsterniert den Kopf schütteln. Zugegebenermaßen war diese Ballade von den beiden Liebenden, die nach einer Folge schicksalhafter Verwicklungen am Ende den Tod fanden, wirklich keine sonderlich romantische Wahl, aber es gab weiß Gott schlimmere. Langsam stand er vom Tisch auf, wobei ihm schmerzlich bewusst wurde, wie es in seinen Schläfen hämmerte und dass Sophie ihn noch immer mit Missachtung strafte. Doch er wollte nun endlich wissen, was ihr eigentlich auf der Seele lastete.
„Ich habe den Eindruck, du könntest ein Paar Handschuhe gebrauchen“, bemerkte er unwirsch, wobei ihm das in erster Linie als Vorwand diente, ihre Hand zu ergreifen. Zu seiner Verblüffung zitterten ihre Finger, sodass er ihr forschend ins Gesicht sah. Vielleicht ließ sich von ihrer Miene die Quelle ihres Kummers ablesen.
„Wie du wünschst“, gab sie demütig zurück. Mehr sagte sie nicht, sondern versuchte stattdessen, ihm ihre Finger zu entwinden. Hugues aber verstärkte ganz leicht seinen Griff, worauf sie sich ihm mit flehendem Blick zuwandte.
„Was ist mit dir?“, flüsterte er.
Sophie schüttelte nur stumm den Kopf. Hilflos musste er zusehen, wie sie mit den Tränen kämpfte. Jetzt bemerkte er auch die rötlichblauen Schatten unter ihren Augen, wenngleich er sich keinen Grund dafür vorstellen konnte, weder für ihre Traurigkeit noch für die offensichtlich schlaflos verbrachte Nacht.
„Ich möchte nicht darüber sprechen“, murmelte sie stockend und entzog ihm mit einem Ruck ihre Hand. Sie hätte sich wohl abgewandt, hätte Hugues sie nicht blitzschnell
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