Ruf der Sehnsucht - Historical Special Bd 33
war, während der Ruf wie ein Lauffeuer weiterhallte: „Die Tore schließen!“
Offenbar von der gleichen Entschlossenheit durchdrungen, streckte die Stute sich noch mehr, während allüberall der Ruf über den Marktplatz brauste und ihnen vorauseilte. Sophie stieß einen derben Fluch aus, als sie sah, wie die Torwache in Windeseile im Torhaus verschwand. Schon ertönte jenes bedrohliche Knirschen der Winde, mit welcher das Fallgatter bewegt wurde. Also hatten Sophies Verwünschungen wohl nichts bewirkt.
Mit geblähten Nüstern preschte die Stute voran und ließ ein Durcheinander aus umgeworfenen Marktständen hinter sich. Jetzt blieb bloß noch ein leerer Streifen Kopfsteinpflaster zwischen den Flüchtenden und dem Tor, doch die Spitzen des eisernen Fallgatters senkten sich bereits Zoll für Zoll, während Sophie ihrem Pferd aufmunternd ins Ohr flüsterte. Dann fiel der Schatten der Stadtmauer über sie, anschließend der des Torhauses selbst, und als das Klirren und Rasseln der Winde dröhnend laut ertönte, duckte Sophie sich auf dem Pferderücken, und mit fest geschlossenen Augen fegte sie im allerletzten Augenblick unter den niedersausenden Eisenstäben hindurch, geschwind wie der Wind.
Die letzten Strahlen der Abendsonne fielen ihr warm auf die Schultern, als Sophie sich wie benommen aufrichtete. Im nächsten Moment zuckte sie zusammen, denn direkt hinter ihr donnerte das Fallgatter mit ohrenbetäubendem Gerassel herunter und prallte mit voller Wucht auf das Pflaster, dass die Erde bebte.
Wenig später aber hatte der Zelter die Straße erreicht, und Sophie brach in befreites Gelächter aus, begleitet von Hufgetrappel und den verhallenden Flüchen der Normannen, die Sophies Triumphgefühl bloß noch verstärkten. Weit hinter ihr hob sich die wutentbrannte Stimme des Torwächters, der sich offenbar schrecklich darüber ereiferte, dass er das Gatter nunmehr schon wieder hochkurbeln sollte, wo er es doch gerade erst heruntergelassen hatte. Der Wind trug sein Geschimpfe jedoch davon, und Sophie hüpfte das Herz im Leib, als sie in der Ferne vor sich auf der Landstraße zwei Gestalten bemerkte, gerade in dem Augenblick, als sich die Schatten bereits über den Weg senkten. Und während sich der Abstand immer weiter verringerte, sah Sophie dem baldigen Treffen gespannt und voller Vorfreude entgegen.
Hugues war weit weniger entzückt, Sophie zu erblicken, zumal ihr ein Trupp normannischer Ritter auf den Fersen war.
„Was, in Dreiteufels Namen, fällt dir denn ein?“, brüllte er, als sie sich ihm auf Hörweite genähert hatte. Zu seiner Genugtuung schien sie vollkommen verblüfft ob dieser Begrüßung.
„Ich wollte dich doch nur warnen“, erwiderte sie kleinlaut. „Dass du in Gefahr bist.“
Hugues wies mit dem Daumen auf die Verfolger. Anscheinend hatte Sophie noch gar nicht bemerkt, dass man ihr nachritt. Das allerdings konnte seine Wut nicht wesentlich mindern. „Warum servierst du ihnen nicht kurzerhand meinen Kopf auf einem Silbertablett?“, polterte er hitzig. „Wenn dir doch so an meinem Ableben gelegen ist.“
Als Sophie die Verfolger bemerkte, verwandelte sich ihre Verwirrung in Entsetzen. „Das … das wusste ich nicht“, stammelte sie, während ihre Stute aufgeregt tänzelte, gleichsam als ahne sie, wie verwirrt ihre Reiterin war.
Hugues wischte den Einwand mit einer Handbewegung beiseite. „Wir haben keine Zeit für sinnloses Gerede“, erklärte er. „Auf in den Wald, und zwar im Galopp, wenn wir ihnen noch entwischen wollen.“
„Aber Milord!“, rief Luc dazwischen, „das ist doch der verwunschene Wald von Brocéliande!“
Der Einwand brachte ihm einen bitterbösen Blick seines Meisters ein. „Zauberwälder gibt es nicht“, kanzelte Hugues seinen Knappen ab.
Zu seinem Unmut sah der jedoch nur verstohlen über die Schulter und machte nicht die geringsten Anstalten, dem Befehl seines Herrn zu folgen. „Es heißt, am Hofe zu Brocéliande halte man Jagdmeuten von Werwölfen“, raunte er mahnend.
Unwillkürlich schlug Hugues die Augen zum Himmel. Was, solch eines Unfugs wegen wollte der Bengel nicht gehorchen? Außerdem schien ihm, als sei nun auch noch Sophie ins Grübeln gekommen. „Es würde dir gut anstehen, wenn du den Unterschied zwischen Wahrheit und Legende endlich lerntest“, fauchte er gereizt und versetzte Sophies Stute, die gerade zu ihm aufgeschlossen hatte, einen Klaps auf die Kruppe. „Auf jetzt, sputen wir uns! Sonst dienen wir noch vor Sonnenuntergang den
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