Ruf der Sehnsucht
Margaret blickte auf das vor ihr liegende Buch hinunter. Ein kleines Lächeln spielte um ihre Mundwinkel, und Jeanne fragte sich, ob das Kind sie necken wollte. Aber offenbar war das nicht der Fall, denn im nächsten Moment wechselte Margaret das Thema.
»Morgen kommt die Schneiderin, Miss du Marchand. Ich soll Euch ausrichten, dass Ihr mir für den Nachmittag freigeben müsst.« Sie schaute Jeanne flehend an. »Könnt Ihr Papa nicht sagen, dass ich den Unterricht nicht versäumen darf? Bitte!«
»Warum?«, fragte Jeanne. Es war nicht das erste Mal, dass das Kind sie derart verwunderte, dass sie mit nur einem Wort reagierte. Sie rief sich zur Ordnung. »Warum soll ich das tun, Margaret? Magst du die Schneiderin nicht?«
»Oh, sie ist sehr nett, aber ich habe einfach nicht die nötige Geduld für das ganze Abmessen und Abstecken.« Sie seufzte tief. »Ich fände es schön, wenn ich nur mit den Fingern zu schnippen bräuchte und die Sachen fertig wären. Stattdessen muss ich stundenlang still stehen und werde gepikst und hierhin und dorthin gedreht. Es ist so langweilig, Miss du Marchand.«
»So solltest dankbar sein, einen Vater zu haben, der vermögend genug ist, um dir schöne Kleider schneidern zu lassen.« Jeanne schaute Margaret über den Rand ihrer Brille hinweg an und versuchte, nicht daran zu denken, dass sie Anproben als Kind genauso gehasst hatte. Stunden erschienen ihr wie Jahre – aber dieses Phänomen erlebte sie bei allen ungeliebten Beschäftigungen auch jetzt noch. Die Zeit mit Douglas hingegen verging – damals wie heute – wie im Flug.
»Wart Ihr denn arm als Kind?«, fragte Margaret.
Und wieder hatte das Mädchen sie überrumpelt. »Nein«, antwortete Jeanne. »Mein Vater war recht wohlhabend. Aber das Leben kann sich schnell ändern, Margaret. Man sollte immer dankbar sein für das, was man gerade hat.«
Margaret nickte. »Vielleicht wäre es erträglicher, wenn Ihr mir Gesellschaft leisten würdet«, überlegte sie laut. »Möchtet Ihr vielleicht auch ein paar neue Kleider? Papa wäre sicherlich einverstanden.«
»Aber ich nicht«, nahm Jeanne ihr den Wind aus den Segeln. »Ich könnte sie nicht annehmen.«
»Sie könnten doch als Teil Eures Lohns gelten.« Ihr Lächeln weckte Jeannes Misstrauen.
»Du hast ihn doch nicht darum gebeten, oder?«
Margaret zuckte mit den Schultern.
»Margaret McRae!«, mahnte Jeanne in strengem Ton.
»Er hat gesagt, Ihr seid wunderschön, Miss du Marchand. Wunderschön.« Sie seufzte so melodramatisch, dass Jeanne lächeln musste.
»Das war sehr freundlich von ihm, aber es ändert nichts daran, dass ich mir keine Kleider von ihm schenken lasse. Ich kann mir selbst welche kaufen.«
»Dann kommt Ihr also mit?«
Jeanne schüttelte den Kopf.
Sichtlich enttäuscht senkte Margaret den Blick wieder auf das vor ihr liegende Buch – und plötzlich bemerkte Jeanne, dass das Mädchen die Augen zusammenkniff.
»Hast du Schwierigkeiten mit dem Lesen, Margaret?«, fragte sie. »Sehen die Buchstaben aus wie Kaulquappen?«
Margaret schaute auf. »Was sind Kaulquappen? Ich habe noch nie welche gesehen.«
Jeanne ging nicht darauf ein. »Verschwimmen die Worte auf der Seite?«
»Nein. Manchmal scheint es, als wären sie weit entfernt – aber das passiert nur, wenn ich müde bin oder das Licht nicht hell genug ist.«
Jeanne nahm ihre Brille ab und reichte sie dem Mädchen.
Natürlich war die Fassung zu groß, aber Margaret schaffte es, die Schlingen der Fäden um die Ohren zu legen. Als sie wieder auf ihr Buch schaute, begann sie zu strahlen.
»Ich kann alles sehen!«, rief sie aufgeregt. »Ganz genau!«
Sie nahm die Brille ab. »Warum tragt Ihr sie nicht ständig, Miss du Marchand?«
Aus Eitelkeit. Aber das würde sie Margaret natürlich nicht gestehen. »Je älter ich werde, umso seltener scheine ich sie zu brauchen«, schwindelte sie stattdessen.
Margaret betrachtete andächtig die in Golddraht gefassten Gläser. »Was für eine wundervolle Erfindung.«
»Dasselbe dachte ich auch, als meine Gouvernante entdeckte, dass ich eine Lesehilfe benötigte.«
»Und jetzt habt Ihr das bei mir entdeckt, Miss du Marchand.«
Etwas an Margarets Lächeln in diesem Moment erinnerte Jeanne an ihre Mutter. Seltsam.
»Seid Ihr sicher, dass Ihr mich der Schneiderin wegen von meinen Studien befreien könnt, Miss du Marchand?«, machte Margaret einen neuerlichen Versuch.
»Völlig sicher«, erwiderte Jeanne lächelnd und nahm sich vor, die unerwartete Freizeit zu
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