Ruf der verlorenen Seelen
sie
sei nur etwas krank und deshalb nicht zur Schule gekommen,
aber sie schüttelte nur den Kopf. Ihre Stimme war rau. »Wir
haben uns getrennt. Jay und ich, wir haben uns getrennt.«
»Ach, Quatsch, Vi.« Chelsea nahm ihre Hand und drückte
sie. »Das wird schon wieder. Ihr habt euch bestimmt nur gestritten,
mehr nicht. Ihr gehört doch zusammen. Das renkt sich wieder ein, da bin ich mir ganz sicher. Soll ich mal mit ihm
reden?«
Wieder schüttelte Violet den Kopf. »Bitte nicht, Chels.«
Chelsea sah gequält aus, besorgt, verwirrt â zu viele Gefühle
auf einmal, die fremd für sie waren. SchlieÃlich seufzte sie.
»Rutsch mal ein Stück.«
Ohne zu widersprechen, machte Violet ihr Platz.
Chelsea legte sich neben Violet auf den Rücken, sodass sie
beide an die Decke schauten. »Also, wenn er so blöd ist, dich
gehen zu lassen, hat er dich nicht verdient«, sagte Chelsea
und stieà Violet unter der Bettdecke an. »AuÃerdem hast du
ja immer noch mich, und ich bin viel witziger, als Jay je sein
könnte.«
Violet brachte ein kleines Lachen mit tränennassen Augen
zustande. Sie hätte Chelsea gern gesagt, wie dankbar sie ihr
dafür war, dass sie heute Abend vorbeigekommen war, aber
alles, was ihr einfiel, klang so abgedroschen wie eine kitschige
Glückwunschkarte. Aber sie konnte sich nichts Besseres vorstellen,
als ihre Freundin neben sich zu haben, die ihr gut zuredete,
während es dunkel wurde.
Violet wusste, dass ihre Mutter noch mal nach ihr gesehen
hatte, nachdem Chelsea gegangen war. Sie spürte ihre kühle
Hand, die ihr über die Wange strich und sich auf ihre Stirn
legte.
Ihre Mutter nahm ihr bestimmt nicht ab, dass sie krank war,
aber sie sagte kein Wort. Sie huschte nur leise ins Zimmer und
schnell wieder hinaus. Violet war ihr dankbar dafür.
In dieser endlosen Nacht gelangte Violet zu einer Erkenntnis:
Sie war verletzt, natürlich, aber sie war auch stark. Sie würde es überleben. Sie musste einfach. Und Jay sollte nicht wissen, wie
weh er ihr getan hatte.
Sie wollte ihn, aber sie brauchte ihn nicht.
Sie machte die Augen zu, aber sie kam nicht zur Ruhe. Sie
konnte nur hoffen, dass ihre Gefühle betäubt würden, dass der
Herzschmerz gedämpft würde.
Am Ende schlief sie einfach ein.
Am nächsten Tag ging Violet immer noch nicht zur Schule.
Nicht weil sie so erschöpft, und auch nicht weil sie todunglücklich
war â obwohl beides zutraf. Sie blieb zu Hause, weil
sie Geburtstag hatte.
Was für ein erbärmlicher siebzehnter Geburtstag!
Sie ging aus ihrem Zimmer und war froh darüber, dass gerade
niemand im Haus war. Sie hatte keinen Hunger, füllte sich
aber trotzdem eine Schale mit Cornflakes. Es nützte ja keinem,
wenn sie verhungerte.
Auf der Anrichte lag ein Zettel von ihrer Mutter, auf dem
stand, sie sei zum Supermarkt gefahren, was wohl bedeutete,
dass sie für das nicht partymäÃige Geburtstagsessen einkaufte,
das sie für Violet plante. Wenn sie nur daran dachte, einen ganzen
Abend mit der Familie zu verbringen â mit ihren Eltern,
ihrer Tante und ihrem Onkel â, um ihren Geburtstag zu feiern,
bekam sie schon Bauchschmerzen. Die Vorstellung, dass Jay
nicht dabei sein würde, machte es fast unerträglich.
Sie ging mit ihren nur halb aufgegessenen Cornflakes zur
Spüle und schaute auf die Uhr. Erst Viertel nach neun. Auf einmal
fand sie es schlimmer, noch einen ganzen Tag zu Hause
eingesperrt zu sein, als in die Schule zu gehen. Violet musste
raus, und ihr fiel nur ein Mensch ein, den sie anrufen konnte.
Sie beeilte sich, sie musste aus dem Haus, bevor ihre Mutter
zurück war. Schnell schlüpfte sie in Jeans und T-Shirt und band
die Haare zu einem Pferdeschwanz, der nichts mit dem der tadellosen
Sara Priest gemein hatte. Selbst an guten Tagen waren
Violets Haare wild und unbändig.
Zur Schadensbegrenzung schaute sie noch einmal kurz in
den Spiegel. So schlimm war es gar nicht. Jedenfalls wenn man
sich erst mal an die bleiche Haut und die dunklen Augenringe
gewöhnt hatte. Und an den leeren Blick aus geschwollenen
Augen.
Sie beschloss, dass es besser war, nicht allzu lange in den Spiegel
zu schauen.
Sie kritzelte schnell einen Zettel für ihre Eltern, in dem sie
schrieb, dass sie zum Abendessen rechtzeitig wieder da sein
würde, dann ging sie schnell hinaus. In dem Moment, als ihr
Wagen stotternd ansprang, ging es ihr besser.
Dann
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