Runenschild
auf eigene Faust gehandelt und versucht die Festung gegen seinen Willen zu
verteidigen. Doch Lancelots letzter Befehl wurde ausgeführt. Das Tor stand weit offen und ein dünner, aber beständiger Strom von Menschen verließ Tintagel, die meisten mit ihren wenigen Habseligkeiten beladen, viele verletzt, sodass sie sich schwer auf andere stützten oder gar
getragen werden mussten.
Der Anblick hätte Lancelot mit Erleichterung erfüllen
müssen, aber alles, was er empfand, waren Scham und
Trauer. Es gelang ihm nicht, Seans Worte zu vergessen: Dann soll das alles umsonst gewesen sein? Was für den
Iren und seine Brüder zutraf, das galt für diese Menschen
hier noch viel mehr.
Sean und seine Brüder waren Söldner; Männer, die sich
freiwillig entschieden hatten ein Leben zu fuhren, das zu
einem Gutteil aus Gewalt bestand und mit großer Wahrscheinlichkeit auch irgendwann einmal durch eben diese
Gewalt beendet werden würde. Den Menschen, die jetzt
dort unten in einer weit auseinander gezogenen, zerbrochenen Kette aus dem Tor marschierten, hatten Gwinneth
und er etwas ungleich Schlimmeres angetan. Sie hatten
ihnen gezeigt, dass es etwas gab, wofür es sich zu kämpfen und vielleicht auch zu sterben lohnte, ihnen das Kostbarste gegeben, was ein Mensch haben konnte – Hoffnung
– und sie ihnen dann wieder genommen.
Irgendwann wurde der Strom aus Männern, Frauen und
Kindern, der Tintagel verließ, dünner, und auch oben auf
den Mauern hielten sich nur noch wenige Gestalten auf,
größtenteils Männer, die sich um ihre verwundeten Kameraden kümmerten oder sich vielleicht auch mit eigenen
Augen überzeugen wollten, dass Artus das Wort auch
hielt, das Thomas ihnen in seinem Namen gegeben hatte,
und schließlich trat er vom Fenster zurück und machte
sich erneut auf den Weg zu Gwinneths Gemach.
Sie stand am Fenster und blickte in die Nacht hinaus, als
er eintrat. Das Feuer im Kamin war heruntergebrannt und
Dunkelheit und bittere Kälte hatten das Zimmer längst
erobert. Gwinneth musste seine Schritte hören und zweifellos wusste sie auch, wer es war, der ihr Gemach betreten hatte, aber sie wandte sich nicht zu ihm um, sondern
blieb starr und reglos am Fenster stehen.
»Gwinneth«, begann Lancelot. Seine Stimme wollte ihm
den Dienst versagen. Er räusperte sich ein paarmal,
schluckte mühsam und musste einen weiteren Moment
lang die Tränen niederkämpfen, die ihm in die Augen steigen wollten. »Ich … es tut mir so Leid.« Er hatte nicht
damit gerechnet, doch Gwinneth drehte sich langsam um
und sah ihn an. Sie schwieg.
»Ich … ich wollte nicht, dass es so weit kommt«, flüsterte er.
»Ich weiß«, sagte Gwinneth.
Lancelots Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. All die
Worte, die er sich hundertmal zurechtgelegt und ebenso
oft wieder verworfen hatte, jedes Flehen um Verzeihung,
jedes Wort des Bedauerns, waren fort. Der Raum hinter
seiner Stirn war wie leer gefegt. Mühsam trat er auf sie zu,
aber er brachte nur die Kraft für einen einzigen Schritt auf.
»Ich wollte das nicht«, sagte er noch einmal. Diesmal
antwortete Gwinneth nicht, doch vielleicht war ihr
Schweigen schlimmer als alles, was sie hätte sagen können. Endlos lange stand Lancelot da, blickte sie an und
wartete auf ein Wort, eine Geste von ihr, dann wandte er
sich ab, ging zum Kamin und streifte den rechten Panzerhandschuh ab. Achtlos ließ er ihn fallen, ließ sich vor dem
halb heruntergebrannten Feuer in die Hocke sinken und
streckte den rechten Arm aus.
»Lancelot – was tust du?«, entfuhr es Gwinneth entsetzt.
»Nie wieder«, flüsterte Lancelot. Der Schmerz, mit dem
die Flammen seine zur Faust geballte Hand berührten, war
entsetzlich und zugleich seltsam irreal. Es tat weh, vielleicht sogar noch mehr, als er erwartet hatte, und zugleich
berührte ihn dieser Schmerz nicht wirklich, auch wenn er
ihm die Tränen in die Augen trieb. »Ich werde dich nie
wieder mit dieser Hand schlagen.«
Gwinneth stieß ein ungläubiges, erschrockenes Keuchen
aus, war mit einem einzigen Satz bei ihm und riss Lancelot mit solcher Kraft vom Kamin zurück, dass er die Balance verlor und stürzte. »Lancelot, nein!«, rief sie. »Was
tust du denn nur?«
Lancelot wollte sich aufrichten und den Arm erneut nach
dem Kamin ausstrecken, aber diesmal war es Gwinneth,
die ihn mit einer Kraft zurückstieß, die ihn überraschte,
und gleichzeitig nach seinem Arm griff, um seine verwundete Hand an die Brust zu pressen. Als Lancelot
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