Runenschwert
kann nicht weiter fallen. Das war zwar richtig, aber ein Trost für den Jungen war es nicht.
» Hebt ihn auf, wir gehen weiter«, sagte ich. Es klang strenger, als ich beabsichtigt hatte, aber der Gestank all dieser Leichen machte mir zu schaffen. Bruder Johannes beugte sich zu dem Jungen hinunter und zog ihn mit leisem Zuspruch auf die Beine. Endlich konnten wir diesen Ort des Todes verlassen.
Eine Stunde später, gerade als der Wind kälter blies und es dunkel wurde, kam Gardi zu uns zurückgetrabt und berichtete, sie hätten einen Bauernhof mit einem Bach gefunden. » Aber dort liegen auch Tote«, sagte er und mein Mut sank. Wir konnten heute nicht mehr weitergehen, und wie es aussah, hatten wir lediglich ein Leichenfeld gegen ein anderes eingetauscht.
Der Hof war auch abgebrannt, aber das Schlimmste hatten die Außengebäude abbekommen, die fast alle aus dem Holz der hiesigen Krüppelkiefern gebaut waren. Das Hauptgebäude hatte zwar kein Dach mehr, aber die dicken Mauern waren noch intakt, wenn auch schwarz von Ruß. Die Umgebung bestand aus Feldern und Hainen, die ich erst für Olivenplantagen hielt, aber dann sah ich, dass es andere Bäume waren, die im Halbdunkel kahl wie Skelette aussahen. Wir fanden Reste von zerstörten und verbrannten Holzrahmen, wie die, auf denen man Heringe räuchert, nur dass diese keine Roste, sondern feste Böden hatten.
Mit dem Fuß drehte Finn einen Toten um, und zwei verrottete Pfeile brachen knackend ab. » Hier liegen nur zwei Tote. Die anderen sind wahrscheinlich in die Kirche geflohen, weil sie es für sicherer hielten«, murmelte er. Er machte ein Abwehrzeichen, um sich eine etwaige Fylgja vom Leib zu halten, und sicherheitshalber bat ich Bruder Johannes, dafür zu sorgen, dass auch die christlichen Geister uns in Ruhe ließen. Wir hatten keine andere Wahl, wir mussten die Nacht hier verbringen.
Wir zündeten ein Feuer an, obwohl ich es nicht gern tat. Aber ich hielt es für vertretbar, als ich die ängstlichen Gesichter der Mannschaft sah, denen der Gedanke, im Dunkeln an diesem unheimlichen Ort zu sitzen, nicht sehr behagte.
Die Flammen vertrieben die Dunkelheit und die Angst. Das warme Essen tat ein Übriges, und eine Stunde später konnten sie schon wieder scherzen.
Ich setzte mich etwas an die Seite, starrte die kahlen Bäume an und überlegte, was hier wohl angebaut worden war. Ich wollte den Hirtenjungen fragen, doch der war völlig erschöpft vom Weinen eingeschlafen und ich brachte es nicht übers Herz, ihn zu wecken.
Finn tauchte neben mir auf. Er stocherte in seinen Zähnen herum, machte eine Kopfbewegung zum Feuer hin und grinste. » Wir sind fast wieder eine solide Mannschaft, Händler«, sagte er, » und ich glaube, ein guter Kampf wird die letzten Fugen auch noch abdichten.«
» Es wird nicht lange dauern, dann können wir mit dem Fugenabdichten anfangen«, erwiderte ich. Dann schwiegen wir, in düstere Gedanken versunken, bis Arnor mit Rätselraten anfing. Das erste kannte jedes Kind, noch ehe es laufen kann.
» Das hatte schon einen ellenlangen Bart, als ich ein kleiner Junge war«, rief Finn und ging ans Feuer. » Du Dummkopf. Wie kannst du dort am Feuer sitzen, mit einer Nase, die aussieht wie dein Arsch, und uns mit solch Kinderrätseln langweilen?«
Arnor sah betreten vor sich hin und antwortete nicht, aber Vagn, ein Däne, den sie Kleggi nannten – Pferdebremse, wegen seines scharfen Spotts –, wusste ein anderes.
» Was schneidet, doch tötet nicht?«, fragte er, und jeder sah seinen Nachbarn an und kratzte sich den Kopf.
» Finns Zunge«, sagte Kleggi triumphierend, und alle brüllten begeistert.
» Schon besser«, sagte Finn gnädig und schob jemanden zur Seite, um sich ebenfalls am Feuer niederzulassen. » Hast du noch mehr davon, du kleiner Arschbeißer?«
Ich hörte ihnen zu und erinnerte mich daran, wie Einar stumm dagesessen hatte, dazugehörend und doch abseits. Empfand er das, was ich jetzt empfand? Ich rutschte an der Mauer herab und legte den Kopf zurück, ich spürte die Wärme des Feuers, hörte ihre Stimmen und ihr Gelächter. Als ich die Augen schloss, sah ich das Schwert. Das Runenschwert, das mir unerreichbar vor Augen tanzte.
Der Wind strich mir über die Wange und brachte einen Hauch Salzluft von einem Meer, das ich jetzt im Traum sah. Ich lag wieder auf dem harten Gras von Björnshafen, wo die Möwen kreisten und der Seetang am Strand in der Sommersonne trocknete. Irgendwo wieherte ein Pferd, und dann sah ich es
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