Rushdie Salman
er am neunten Morgen lebend erwachte,
war er keineswegs erleichtert. «Ein lebender Tod», erklärte er Il Machia, «ist schlimmer als ein toter Tod, denn
im lebenden Tod kann man immer noch den Schmerz
eines gebrochenen Herzens fühlen.»
Niccolo wusste Bescheid über den lebenden Tod, denn
obwohl er selber nur knapp dem Tod der Toten entronnen
war, war er jetzt doch ein toter Hund, ein ebenso toter
Hund wie der arme Ago, da sie beide aus dem Leben
entlassen worden waren, aus ihren Stellungen, aus den
grands salons wie jenem von Alessandra Fiorentina, obwohl sie doch allen Grund gehabt hatten, dies für ihr
wahres Leben zu halten. Ja, sie waren Hunde mit gebrochenem Herzen, weniger noch, sie waren verheiratete
Hunde. Abend für Abend starrte er seine Frau über den
Esstisch an und merkte, dass er ihr nichts zu sagen hatte.
Marietta, das war ihr Name, und hier saßen auch seine
Kinder, ihre Kinder, ihre vielen, vielen Kinder, also hatte
er sie gewisslich geheiratet und wie ein richtiger Mann
Kinder mit ihr gezeugt, doch das war zu einer anderen
Zeit gewesen, der Zeit pflichtvergessener Grandeur, als
er noch jeden Tag ein anderes Mädchen vögelte, um vital
und agil zu bleiben, und seiner Frau hatte er es auch besorgt, mindestens sechs Mal. Marietta Corsini, sein Weib,
die ihm die Unterhosen und Handtücher stopfte und
nichts über nichts wusste, die seine Philosophie nicht
verstand und auch nicht über seine Scherze lachen konnte. Jedermann hielt ihn für witzig, doch sie nahm ihn stets
wörtlich, sie glaubte, ein Mann meine, was er sagte, und
Anspielungen und Metaphern setzten Männer nur ein, um
Frauen zu täuschen, um sie denken zu lassen, sie wüssten
nicht, was gespielt würde. Er liebte sie, gewiss. Er liebte
sie wie ein Mitglied seiner Familie. Wie eine Verwandte.
Wenn er mit ihr schlief, fühlte es sich sogar irgendwie
falsch an. Es kam ihm inzestuös vor, als vögelte er seine
Schwester. Genau genommen war es allein diese Vorstellung, die ihn erregen konnte, wenn er bei ihr lag. Ich ficke meine Schwester, sagte er sich und kam.
Sie kannte seine Gedanken, wie jede Frau die Gedanken
ihres Mannes kennt, und sie litt darunter. Niccolo war
zuvorkom-mend und hatte auf seine Weise viel für sie
übrig. Madonna Marietta und ihre sechs Kinder, Münder,
die es zu stopfen galt. Die absurd fruchtbare Marietta,
einmal angefasst, schon blähte ein Kind sie auf und purzelte bald darauf aus ihr heraus, ein Bernardo, ein Guido,
eine Bartolomea, ein Totto, eine Primavera und noch
ein]unge, wie hieß er gleich, Lodovico, die Vaterschaft
wollte offenbar nie enden, dabei war dieser Tage das
Geld so knapp. Signora Machiavelli. Da kam sie auch
schon in die Taverne gestürzt und sah aus, als stünde ihr
Haus in Flammen. Sie trug eine Rüschenhaube, das Haar
hing ihr wirr in ungebändigten Löckchen ums eiförmige
Gesicht mit dem kleinen Mund, den vollen Lippen, und
sie flatterte mit den Händen wie eine flügelschlagende
Ente, ja, doch da er schon einmal beim Thema Enten war,
musste auch zugegeben werden, dass sie ein wenig watschelte. Seine Frau watschelte. Er war mit einer watschelnden Frau verheiratet. Unvorstellbar, dass er je wieder ihr Geschlecht berühren würde. Es konnte einfach
keinen Grund geben, sie jemals wieder anzufassen.
«Niccolo mio», rief sie mit einer Stimme, die, nun ja,
wirklich ein wenig quakte, «hast du gesehen, was da auf
der Straße zu uns kommt?»
«Was denn, geliebtes Weib?», fragte er beflissen.
«Was Schlimmes für die ganze Gegend», sagte sie.
«Sieht aus wie der leibhaftige Tod zu Pferde mitsamt
riesigen Unholden und in Begleitung grausiger Teufelsköniginnen.»
Die Ankunft jener Frau in Sant’ Andrea in Percussina, die
dereinst als l’ammaliatrice Angelica berühmt, wenn nicht
gar berüchtigt werden sollte, der sogenannten Zauberin
von Florenz, ließ die Männer von den Feldern herbeieilen, während die Frauen aus den Küchen liefen und sich
die teigverklebten Finger an ihren Schürzen abwischten.
Holzfäller kamen aus den Wäldern, der Sohn des Metzgers Gabburra rannte mit blutigen Händen aus dem
Schlachthaus, und die Töpfer ließen ihre Brennöfen im
Stich. Frosino Uno, der Zwillingsbruder des Müllers Frosino Due, trat mehlbestäubt aus der Mühle. Die lederhäutigen, wundnarbigen Janitscharen von Stambul boten
allerdings einen überwältigenden Anblick, und auch ein
Quartett Schweizer Albino-Riesen auf weißen Pferden
sah man in
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