Russisch Blut
wirklich gewesen war, zeigte der Geröllhaufen, den eine Panzerfaust an einem Frühlingsmorgen davon übrigließ.
Sie spürte, wie ihr die Kehle eng wurde, und blinzelte in den hellen Himmel draußen vor der Terrassentür. Geschichte. Bis zurück ins 12. Jahrhundert. Tausend Jahre. Dort, wo sie her kam, hatte niemand Wurzeln, geschweige denn etwas, das man Geschichte nennen könnte. Die, auf die sich einige Leute etwas einbildeten, war Legende – mit tödlicher Wirkung.
Als sie sich wieder umdrehte, stand Alex Kemper neben ihr.
»Und was glauben Sie, Frau Doktor?« Fast war sie versucht, sein Lächeln zu erwidern. »Soll Blanckenburg zum Anziehungspunkt der Golfer dieser Welt werden? Oder zu einem Paradies für Gartenfreunde? Oder sollen wir unsere Finanzen mit archäologischen Sensationen aufpäppeln? Stellen Sie sich vor –« Er breitete die Arme aus. »Die Schlacht bei Blanckenburg. Sammeln Sie echte germanische Pfeilspitzen und römische Bleigefäße! Und abends servieren wir Wildschwein am Spieß, wie bei Asterix und Obelix!«
Jetzt lachte sie doch. Alex Kemper war ein Frauenheld, aber ein unterhaltsamer.
»Und wer weiß, was sich noch alles finden wird irgendwo in den Katakomben von Schloß Blanckenburg.« Alex grinste. »Unschätzbar kostbares Geschmeide, versteckt in einem schweinsledern eingebundenen, ausgehöhlten Gesangbuch? Geheime Dokumente in der Familienbibel, denen zufolge den Eigentümern von Blanckenburg in Wirklichkeit der ganze Industriepark Nord mitsamt seinem Erlebniseinkaufscenter gehört?«
Die Bürgermeisterin lachte verschämt.
»Kostbare Gemälde?«
Täuschte sie sich, oder warf Sophie ihrem aufgekratzten heimlichen Liebhaber einen strafenden Blick zu? Katalina schenkte Alex ein strahlendes Lächeln. Jetzt erst recht.
4
Zeus gab keine Ruhe. Unwillig schlug Katalina die Augen auf. Sie überließ dem Hund einen ihrer Hausschuhe, den er begeistert in die Zimmerecke schleppte, um ihn zu zerlegen, und lehnte sich noch einmal in die Kissen. Ein paar weitere Stunden Schlaf hätten wahrscheinlich Wunder gewirkt – gegen müde Augen und einen dicken Kopf. Sie hatte viel zu viel getrunken gestern abend, denn nach dem Abgang der Gäste war überraschend gute Laune ausgebrochen und Gundson hatte eine Flasche nach der anderen aus dem Weinkeller geholt.
Zeus unterbrach seinen Versuch, den eigenen Schwanz zu fangen, um aufs Bett zu springen und ihr einen feuchten Stupser gegen das Kinn zu verpassen.
Sie war ziemlich angeheitert gewesen, als sie sich im Schloßhof mit einer Umarmung von Alex verabschiedete. Zu ihrer Überraschung hatte er versucht, sie zu küssen. Sie hatte nicht wirklich etwas dagegen gehabt, aber ihr war aufgefallen, daß Alex just in dem Moment zärtlich geworden war, in dem Erin aus der Tür zum Turmflügel trat. So, als ob er Katalina daran hindern wollte, darüber nachzudenken, wo seine Frau mitten in der Nacht gewesen sein könnte. Zu Besuch bei ihrem Patienten, der aller Wahrscheinlichkeit nach um diese Zeit schon schlief? Katalina merkte, wie sie unruhig wurde. Sie mußte nach dem alten Herrn gucken. Der Gedanke an das Rohypnol und das Ableben von Sophies Dogge machte sie nervös.
Sie schob die Bettdecke von sich in der schwachen Hoffnung, Zeus, der sich wieder hingebungsvoll dem Schuh widmete, würde nichts merken. Aber einen solchen Hund täuschte man nicht. Er wollte raus, sobald sie aus dem Bett war, und zwar sofort, nicht erst, nachdem sie Kaffee getrunken und ihn gefüttert hatte. Hundeliebe war verdammt anstrengend.
Er sah ihr aufmerksam zu, wie sie in die Fahrradklamotten schlüpfte. Ein kluger, aber wirklich und wahrhaftig häßlicher Kerl: das längliche Fell senfbraun, das linke Ohr abgeknickt, die Schnauze zu spitz, die Beine zu kurz; er sah aus wie eine Mischung aus Riesenschnauzer und Dackel. Nur seine Augen waren groß und bernsteinbraun, perfekt für den ergebenen Hundeblick.
Als sie am Spiegel vorbeiging, drehte sie sich um und blickte hinein. Vorne nix und hinten nix, die Schultern zu breit, die Haare zu kurz. Nur die Augen waren groß und dunkel und – naja: voller Seele, dachte Katalina. Wie bei Zeus. Ganz so wie er sah sie zwar noch nicht aus, aber ihre besten Zeiten waren vorbei. Natürlich hatte Alex sie nur aus taktischen Gründen geküßt.
Sie schüttelte sich, lief die Treppe hinunter und öffnete die Haustür, um den Hund herauszulassen. Alles ging viel zu schnell. Das Leben rauschte an ihr vorbei – und der Frühling war, wie jedes
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