Russische Freunde: Kriminalroman
verworfen, weil Karpow ja keine Familie hatte, irgendeine Frau natürlich, zumindest zeitweise, aber keine Kinder. Ich wusste, dass seine Eltern sich längst totgesoffen hatten. Dann war es mir wie Schuppen von den Augen gefallen: babuschka und djeduschka . Natürlich! Oma und Opa waren Waleri heilig, ihr Haus würde er nicht beflecken wollen.
Je mehr ich über meinen Plan nachgedacht hatte, desto machbarer und besser war er mir erschienen. Außerdem hatte ich keinen anderen.
Das Handy suchte eine Weile nach Empfang, präsentierte dann fast volle Balken.
» Allo «, meldete sich Karpow. Seine Stimme war klar und deutlich zu hören.
»Grüß dich, ich bin’s«, begann ich, wollte die Sache schnell hinter mich bringen. »Ich bin bei Kostamus rüber. Eine alte Etappenroute, von der Armee gelernt. Kaum zu glauben, aber sie funktioniert immer noch.«
Ich hielt mich an die alte Lügnerregel: Sag die Wahrheit, wann immer du kannst, streu wahre Details ein.
»So, so«, sagte Karpow. Ich lauschte auf Anzeichen von Überraschung und Fassungslosigkeit.
»Ich muss mich ein bisschen ausruhen«, seufzte ich theatralisch. »Ich dachte mir, ich versteck mich in Tuohisjärvi, vielleicht kannst du mich da abholen. Ich hab eine Mitfahrgelegenheit gefunden, bin schon ganz in der Nähe, wie heißt denn das Dorf …« Ich legte eine Hand vor das Mikrofon, sprach mit mir selbst Russisch und hob das Handy dann wieder ans Ohr. »Wir sind in der Gegend von Schomba. Deine Großeltern habe ich schon angerufen. Sie freuen sich sehr. Und ich habe ihnen versprochen, dich auch zu einem Besuch zu überreden.«
»Na schön, so eilig habe ich es nicht. Ich komme«, versprach Karpow.
Rasch kappte ich die Verbindung. Ich konnte mich selbst nicht leiden.
»Karpow weiß Bescheid«, sagte Oka und unterstrich seine Schlussfolgerung, indem er seine hellen Augenbrauen hochzog. »Und was willst du deinem Freund antun? Wozu bist du fähig?«
Ich wusste genau, worauf er anspielte. Ich hatte die Zusammenfassungen und Analysen in meinen Ausbildungsberichten gelesen.
Kornostajew, Viktor Nikolajewitsch: Ist außergewöhnlich resistent gegen physische Belastung und psychischen Druck. Bleibt selbst unter extremen Bedingungen handlungsfähig und denkt rational. So hatte es die psychophysische Untersuchungskommission zu Protokoll gegeben. Aber auf dem letzten Bogen des Berichts, in der Rubrik Sonstiges , hatte der Oberstarzt handschriftlich seine persönliche Einschätzung vermerkt: Fähigkeit zu extremen Maßnahmen Fragezeichen! Offenbar nicht geeignet für operative Eliminierungsaufträge, sofern die Tat nicht rationalisiert werden kann.
Ich erinnerte mich an jedes Wort, an die schwungvolle Handschrift des Oberst, an jedes übertriebene Satzzeichen und jede Formulierung.
»Karpow ist zu weit gegangen«, antwortete ich an der Frage vorbei. »Wir waren wie Brüder. Oder noch mehr als das. Er hat mich verraten und andere Menschen in Gefahr gebracht. Das darf man nicht zulassen. Und, verstehst du, auch ein Verräter hat seine Ehre. Karpow verdient eine Strafe.«
Wir packten unsere wenigen Sachen. Ich entfernte das Magazin aus meiner Pistole, zog den Schieber zurück und drückte ein paarmal ab. Korhonen beobachtete meine Inspektion und tat seinerseits, als würde er das Sturmgewehr abfeuern, schnalzte Schussgeräusche. Ein erwartungsvolles, fast feierliches Gefühl überkam mich. Am liebsten hätte ich meine Jacke gebügelt wie für eine Parade und die Schuhe auf Hochglanz poliert. Selbst Korhonen hielt den Mund.
Wir trugen die Taschen aus dem Haus. Medwedkin, der wartend neben einem blauen Wolga stand, öffnete den Kofferraum. Oka kam um die Hausecke. Er trug Sandalen und eine Schirmmütze, ein gestreiftes Hemd, Hosenträger.
»Ist ansonsten alles in Ordnung? In deinem Leben?«, fragte er.
»Ja, schon. Manchmal hat man nur das Gefühl, dass man alles allein machen muss. Und man wird enttäuscht, wenn man von anderen Menschen Gutes denken will«, sagte ich und bereute es sofort. Ich hätte die Frage mit irgendeiner Floskel quittieren sollen, danke bestens oder na ja, könnte schlimmer sein.
»Glaube an das Gute. Und hilf anderen«, erwiderte Oka ernst. »Schau, der Mensch fühlt sich sicher, wenn er anderen hilft. Dann weiß er, dass auch er Hilfe bekommt, wenn er selbst einmal schwach ist.«
Ich hätte mich mit einem Scherz darüber hinwegsetzen können, mit einer flapsigen Antwort. Darauf, dass ich schlapp herumtapse und Unterstützung brauche,
Weitere Kostenlose Bücher