Russische Orchidee
die Augen zusammen und vollführte mit den Fingern einen lautlosen Trommelwirbel.
Alle außer seinen Eltern … Aber es war die Mutter, durch die wir von der Geldschuld erfahren haben. Sie hat Anissimow sofort als Mörder bezeichnet und von dem Geld gesprochen. Später, nachdem sie aus ihrer kurzen Ohnmacht wieder zu sich gekommen ist, hat sie die Summe genannt – dreitausend Dollar. Wir haben also überhaupt erst durch sie von der Schuld gehört. Von den Drohungen ebenfalls.
»Wie war denn eigentlich Butejkos Verhältnis zu seinen Eltern?«
»Tja, was soll ich sagen? Schwierig.«
»Geht es konkreter?«
»Wissen Sie, Butejkos Eltern waren altmodisch: rechtschaffene, korrekte, naive Leutchen. Solchen Leuten kann man nichts erklären. Wenn sie auch nur annähernd erfahren hätten, wie hoch seine Ausgaben und seine Schulden waren, hätten beiden die Haare zu Berge gestanden. Artjom mußte jeden Tag zu irgendwelchen repräsentativen Terminen, in Restaurants, Casinos, seine Kontakte zur Prominenz pflegen. Er kleidete sich in teuren Boutiquen ein, litt unter chronischem Geldmangel.«
»Ist den Eltern nicht aufgefallen, daß er teure Kleidung trug?«
»Er hat so getan, als würde er seine Klamotten aus zweiter Hand in Kommissionsläden kaufen. Die konnten doch Versace nicht von ›Rote Naht‹ unterscheiden.«
»Moment, in Moskau gibt es aber doch längst keine Kommissionsgeschäfte mehr«, warf Borodin ein. »Wußten sie das auch nicht?«
»Artjoms Eltern haben in den letzten Jahren nur noch in dem Lebensmittelgeschäft an der Ecke eingekauft. Nichts weiter als Essen, Kefir, Brot, Makkaroni. Wenn jemand zu Besuch kam, haben sie ihm geröstetes Schwarzbrot vorgesetzt. Roggenbrotscheiben, wissen Sie, in Sonnenblumenöl geröstet. Kleider haben sie sich überhaupt keine mehr gekauft, sondern nur ihre alten Sachen aufgetragen. Bei Artjoms Vater bestanden alle Socken zur Hälfte aus Gestopftem. Jacketts und Mäntel waren gewendet. Sie wissen ja, wenn die Sachen an den Nähten zerreißen, wendet man sie auf die Innenseite, wo das Gewebe noch nicht so zerschlissen ist, und näht sie neu zusammen. Artjoms Mutter saß tagelang an der Nähmaschine.«
Sanja starrte, während er das alles halblaut erzählte, auf einen Punkt und wartete die ganze Zeit darauf, daß dem Untersuchungsführer sein Geschwätz über würde. Aber Borodin schwieg, entspannt zurückgelehnt, und betrachtete Sanja durch halbgeschlossene Augenlider. Sanja kam es sogar so vor, als sei der Alte eingeschlafen. Er schielte zu ihm hinüber, nahm sich dann, ohne zu fragen, noch eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an.
»Einmal ist Artjom in einem dunkelgrünen Plüschhemd in die Schule gekommen, so eng, daß man Angst hatte, gleich würden die Nähte platzen, und hat erklärt, das sei jetzt der letzte Schrei, ein Verwandter hätte es aus Paris für seinen Sohn mitgebracht, aber der hätte einen zu dicken Bauch, und die Knöpfe gingen nicht zu. In Wirklichkeit hatte seine Mutter auf dem Speicher eine alte Decke gefunden und ihm daraus das Hemd genäht.« Sanja drückte die Zigarette aus und holte Atem. Im Büro wurde es still. Das Schweigen dauerte mehrere Minuten.
Er glaubt mir nicht, dachte Sanja bekümmert. Gleich schickt er mich zurück in die Zelle.
Davor fürchtete er sich am meisten. Jede Minute in dem ruhigen Büro, ohne Gestank und Angst vor den kriminellen Zellengenossen, war Sanja jetzt Gold wert.
Der Untersuchungsführer saß immer noch reglos da, nur seine Lider hoben sich ein wenig. Sein Blick belebte sich.
»Warum sagen Sie denn nichts mehr, Anissimow?« fragte er mit kaum merklichem Lächeln. »Ich höre Ihnen aufmerksam zu. Butejko ist in einem Hemd in die Schule gekommen, das aus einer alten Decke genäht war. Was geschah weiter?«
»Weiter? Na, was schon? Alle begannen zu streiten, dieses unglückselige Hemd zu begutachten und anzugrapschen. Eins von den Mädchen machte darauf aufmerksam, daß die Nähte im Zickzackstich gearbeitet seien und nicht auf einer Overlock, das heißt, das Hemd war auf einer kleinen privaten Nähmaschine genäht worden. Aber Artjom ließ sich nie aus der Ruhe bringen, wenn man ihn beim Lügen ertappte. Er erklärte, auch das sei hochmodern. Die berühmtesten Modedesigner verkauften jetzt handgearbeitete Sachen. Letztendlich erreichte er, was er wollte. Die ganze Klasse beschäftigte sich mit seinem Hemd, mit seiner Person. Als das handgearbeitete Hemd allen zum Halse raushing, dachte er sich
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