Russisches Abendmahl
ihre Unterlippe läuft. »Rolf hat nur so getan, als wenn er etwas von ihm wollte.«
Armer Arkadij , denke ich erneut.
Kurz vor zwölf Uhr mittags klingelt das Satellitentelefon. Ich drücke auf die Anruftaste und warte. Mein Mund ist zu trocken, um zu sprechen.
»Sie hat es geschafft.«
»Geben Sie mir den Arzt.«
»Was?«, fragt er dümmlich.
Posnowa liegt bewusstlos auf dem Boden, immer noch gefesselt, aber nicht mehr auf dem Stuhl. Ich habe ihr weder etwas zu Essen noch Wasser gegeben. Ich muss nur ihre kaputte Hand drücken, damit sie laut genug wimmert, dass er es hören kann. Nach und nach kommt sie stöhnend zu sich.
»Halt«, sagt Peter. »Ich hole ihn.«
Posnowa krümmt sich auf dem dreckigen Teppich, während ich sie teilnahmslos ansehe und warte. Mehr als fünf Minuten vergehen, zu lange, dafür, dass Peter nur den Arzt rufen wollte. Ich versuche nicht daran zu denken, was das bedeuten könnte.
»Hallo?«
Die Stimme am Telefon meldet sich mit zitterndem Tremolo. Ich kann mich nicht erinnern, wie er damals in Prag geklungen hat. Die zischenden, pochenden Maschinen, die Valja am Leben hielten, lenkten mich zu sehr ab. »Ist da Valjas Arzt?«
»Ähm, ja.«
Sein Zögern gefällt mir nicht. Es bedeutet, dass er jemanden ansieht, der ihm sagt, was er antworten soll. »Sagen Sie mir, wie es ihr geht.«
»Sie wird es überstehen.«
»Was ist mit ihrem Fuß?«
Er hustet. »Vielleicht wächst er wieder an, vielleicht auch nicht. Selbst wenn, sie wird den Rest ihres Lebens humpeln.«
»Wie stehen die Chancen?«
Er zögert.
»Sagen sie mir die Wahrheit!«
»Bestenfalls gering.«
Ich atme absichtlich langsamer, um mein rasendes Herz zu beruhigen. »Wann kann sie Prag verlassen?«
»In frühestens zwei Wochen, wenn er anwächst. Wenn nicht … früher.«
»Womit haben die Sie in der Hand?«
Sechstausend Meilen entfernt und ich kann seinen Atem stocken hören. Ich warte einen Moment, bis klar ist, dass er nicht antworten wird.
»Ihre Familie?«
Sein abgebrochenes Wimmern beantwortet meine Frage und sagt mir, dass ich ihn nicht töten muss. Dann ist Peter wieder am Apparat.
»Lassen Sie mich mit meiner Frau sprechen.«
»Sehen Sie zu, dass Valja nichts passiert.«
»Tun Sie ihr nicht mehr weh!«
Diesmal bin ich es, der auflegt.
27
Die restliche Zeit bis zu unserem Flug vergeht langsam. Ich muss nur ihre Hände ansehen und Posnowa fängt an zu stammeln, aber ich habe keine große Lust zu reden. Irgendwann während des langen Wartens frage ich sie, mit wem Pappalardo wohl fliegt.
»Ich weiß es nicht.« Sie sieht meinen Blick, stöhnt auf und stemmt die Füße gegen den schmutzigen Teppich, um sich von mir wegzuschieben. »Ich schwöre.«
»Wo will er in Moskau hin?«
»Das weiß ich auch nicht. Aber ich glaube, er weiß, wo er Rolf erreichen kann.«
Jede Faser meines Körpers ist durchdrungen von der Hoffnung, irgendwann meine Rechnung mit dem Kunstrestaurator begleichen zu können.
Als es endlich Zeit ist zu gehen, verpasse ich Posnowa eine Sonnenbrille und einen weiten Mantel mit hohem Kragen und fahre mit ihr zum JFK. »Behalten Sie die Hände in den Taschen«, sage ich zu ihr.
Ihre verstümmelten, vom Blut angeschwollenen Hände müssten ärztlich behandelt werden, was so schnell nicht der Fall sein wird. Sie ist extrem eingeschüchtert, außerdem mit Percocet aus meinem Privatbestand vollgepumpt. Mit gesenktem Kopf und einem nicht nachlassenden Schüttelfrost folgt sie mir zum Terminal und lässt die Sicherheitskontrolle gefügig über sich ergehen. Sobald wir eingecheckt haben, ziehe ich sie zu einer Telefonzelle und rufe mit einer Karte, die ich in einem Souvenirladen auf dem Flughafen gekauft habe, Vadim an. Er geht nicht dran, und die Mailbox ist auch nicht eingeschaltet. Vadim hasst diese Art von technischen Geräten. Also rufe ich Nabi an und hinterlasse ihm eine Nachricht, wann und wo er uns am Flughafen in Moskau abholen soll.
Pappalardo fliegt erster Klasse, sein stolzes Kinn durchschneidet die Menschenmenge vor dem Gate wie ein Eisbrecher. In schillerndem lila Filz und passendem Hut drängelt er mit seiner Tasche über der Schulter vorbei an den Economy-Passagieren. Sein Sixties-Chic ist weit entfernt von einem Mafia-Mann und auch von dem Galeriebesitzer in unvermeidlichem Schwarz. Ich kenne mich aus mit diesen Leuten. Moskau ist für ihn eine Spielwiese, ein Ort, an dem er für lächerliche Beträge alles bekommt, was er will, wo er seine verbotenen Triebe
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