Rywig 04 - Die Glücksleiter hat viele Sprossen
Heiko diese norwegische Sitte mit dem Milchreis und der Glücksmandel erklären. Im Milchreis befand sich eine geschälte und kaum zu entdeckende Mandel. Wer die auf den Teller bekam, war seines Glückes im kommenden Jahr sicher.
Aber keine Mandel tauchte auf.
Komisch! Ich hatte sie ja selbst reingetan, darauf konnte ich schwören.
Dann fiel mein Blick auf meinen jüngsten Bruder. Er kann weiß Gott Schabernack machen, aber eine Kunst hat er nicht gelernt: seine Sünden zu verheimlichen. Sein Gesichtsausdruck verrät ihn immer.
„Stefan“, sagte ich. „Was hast du mit der Mandel gemacht?“
„Eh - “, sagte Stefan.
„Raus mit der Sprache!“
„Es war nur so: Als ich in die Küche kam, war niemand da, und -
„Und? Hast du die Mandel gegessen?“
„Gegessen - du bist wohl! Ich wollte euch doch nicht das Glück klauen! Nein, aber ich sah gerade die Spitze davon im Kochtopf, und dann habe ich sie rausgeholt und - ja, also, ich habe sie im Mörser zerstoßen und wieder reingetan und tüchtig umgerührt, damit wir alle
etwas davon abkriegten und alle glücklich werden!“
„Ach, Stefan! Du bist eigentlich ein Goldjunge!“
„Finde ich auch“ sagte Stefan und streute eine extra Zuckerschicht auf den Reisrest auf dem Teller.
Tannenduft, Musik, brennende Kerzen, strahlende Kinderaugen, erwartungsvolle Gesichter, ein Weihnachtsabend, wie er sein soll.
Wieder mußte ich Heiko eine norwegische Sitte erklären: die, daß man sich die Hände reicht, einen Ring bildet - was bei uns mit all den Familienmitgliedern sehr leicht war - und um den Baum geht, während man die alten, lieben Weihnachtslieder singt.
Heiko fand es reizend, er sang die deutschen Texte zu den international bekannten Weihnachtsmelodien. Rolf, Senta und ich leisteten ihm Gesellschaft, und so klang es gleichzeitig auf norwegisch und deutsch:
„Stille Nacht, heilige Nacht“
„Glade jul, hellige jul“
Die beiden Kleinen stritten sich darum, neben Heiko zu gehen und seine Hand zu halten.
Es war ganz sonderbar, aber es zeigte sich immer wieder: Sie konnten kaum ein Wort mit ihm wechseln, aber sie hingen an ihm wie zwei kleine Kletten.
Die Blicke gingen immer zu dem Paketberg unter dem Baum. Das war auch neu für Heiko: daß alle Pakete, säuberlich eingepackt in Weihnachtspapier, auf einem Riesenhaufen unter dem Baum lagen.
Dann war endlich der große Augenblick da.
Das Paketeverteilen war von jeher Papas Amt. Dazu setzt er sich auf den Fußboden neben den Baum und läßt sich durch nichts stören. Die Pakete holt er einzeln vom Haufen. Was auf dem Anhängezettel steht, wird laut vorgelesen, und dann erst landet das Paket beim Empfänger.
Bald war das ganze Zimmer ein Wirrwarr von buntem Papier und Bändchen. Auf Stühlen, Tischen, auf Sofa und Fernsehgerät, auf Hockern und Regalen lagen Geschenke.
Ich wartete und wartete. Ja, da kam es, ein ganz kleines Paket. War das nicht mein Geschenk an Heiko?
„Für seine Sonnie von ihrem Heiko“, las Papa vor, auf deutsch.
Ich riß das Papier auf - eine kleine Juwelierschachtel kam zum Vorschein. Mit zitternden Fingern machte ich auf.
„Nein - Heiko! Heiko!!“
Es war ein Ring. Ein Ring mit einer kleinen ovalen Goldplatte, auf der Platte eine winzige Perle. An der Seite war ein Miniaturscharnier und unter der Platte ein ganz, ganz kleiner Raum -eben groß genug für ein Minibildchen - oder für ein paar Körnchen roter Erde.
„O Heiko!“
Dann sah ich, daß er dastand mit meinem Geschenk in der Hand. Mein guter Papa, er wußte schon...
„Sonnie! Impala!“
Wir hatten genau denselben Gedanken gehabt.
Ich weiß nicht, wie es weiterging. Wie durch einen Schleier sah und hörte ich die Freude meiner Familie. Ich stand mit Heiko hinter der Tür zum Eßzimmer. Er schob den Ring auf meinen Finger und ich seinen auf seinen linken Ringfinger.
Nachher wollten wir unsere Körnchen roter Erde in die kleinen Kapseln legen. Aber dabei wollten wir allein sein. Allein wie an dem Morgen in Serengeti.
„Hast du den Ring extra machen lassen?“ fragte ich endlich.
„Ich wollte es, aber es schien furchtbar schwierig zu sein. Und dann passierte es zum Glück, daß ich vor zwei Wochen ein Postpaket bei einem Antiquitätenhändler abzugeben hatte, und dann sprang mein Herz mir in die Kehle vor Freude, denn da lag der Ring in einer Vitrine! Genau der Ring, den ich suchte!“
„O Heiko - wie viele Pakete hast du geschleppt, um das schöne Stück zu bezahlen!“
„Sag mal ganz ehrlich,
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