Rywig 04 - Die Glücksleiter hat viele Sprossen
da standen sie: meine geliebte Beatemutti, meine fünf Geschwister, meine gute, liebe Schwägerin, all diese Menschen, an denen ich mit meinem ganzen Herzen hing. Annettchen in ihrem guten Kleidchen und mit Blumen in der Hand, Stefan im feinen Kadettenanzug. Jetzt bekam er einen kleinen Schubs, er trat einen Schritt vor und deklamierte in nicht einwandfreiem, aber jedenfalls verständlichem Deutsch: „Heute gratulieren wir, und wir alle wünschen dir viele Löwen, viele Affen, Leoparden und Giraffen.“
„Das habe ich gedichtet!“ teilte Hans Jörgen mit. „Sind viele Fehler drin?“ Wir versicherten ihm, Goethe hätte es nicht besser gemacht!
Küsse, Umarmungen, Glückwünsche. In der wunderbaren Torte brannten 21 kleine Kerzen, und der Tisch bog sich fast unter den Geschenken.
Lauter Sachen für mein zukünftiges Heim! Praktische kleine Küchengeräte, eine bildschöne Tischdecke, eine praktische Leselampe - und von den Eltern ein elektrischer Handmixer! Ich fiel ihnen um den Hals vor lauter Begeisterung. Als ich unter den Zusatzgeräten eine Reibe für Kartoffeln entdeckte, wechselte ich mit Beatemutti einen blitzschnellen Blick, und dann bekam sie einen Extrakuß.
Von Heiko ein deutsches Buch: ein soeben erschienenes, prachtvolles Werk über die Tierwelt Ostafrikas.
„O Heiko, wie viele Pakete.“
„Keine“, lachte Heiko. „Zwei Tage Autowaschen!“
Und das war der nüchterne und genügsame Mann, der nie eine Taxe nahm, der im Ausland keine Mitbringsel kaufte, der Kartoffelpuffer mit Apfelmus als Lieblingsessen hatte!
„Ihr lebt aber gut“, sagte derselbe Mann am Mittagstisch. Der Hammelbraten war verzehrt, jetzt wurde die große Torte angeschnitten. „Ich glaube, ich habe fünf Pfund hier zugenommen!
„Ja, wenn du grade zum Weihnachtsfest und Silvester und Geburtstagsfeiern kommst“, schmunzelte Papa. „Für täglich gibt es ganz andere Sachen! Erbsensuppe und gesalzene Fische und Frikadellen und dicke Bohnen.“
„Aber keine Kartoffelpuffer“, lächelte Beatemutti. „Heiko,
glaubst du, daß deine Mutter mir das Rezept geben wird?“
„Aber sicher! Dafür werde ich schon sorgen!“
Die Torte verschwand im Nu.
„Du lieber Himmel“, stöhnte Heiko. „So eine Torte hält ein Jahr vor!“
„Dann ist es ja gut, daß morgen ein neues Jahr ist“, lachte Senta. „Denn morgen gibt es noch eine!“
„Welch Glück, daß ihr nicht Drillinge seid“, sagte Heiko matt, ganz erschöpft von dem vielen und ungewohnten Essen. „Wie gut, daß wir am Dritten zurück müssen.“
„Ja“, schmunzelte Beatemutti. „Das ist für euch ein Glück. Denn an dem Tag gibt es höchstwahrscheinlich gebratene Heringe!“
Silvester - brennende Kerzen, ein wunderbar gedeckter Tisch, Tannen- und Blumenduft, strahlende Kinderaugen - und strahlende Augen auch bei den Erwachsenen.
Die Kleinen hatten einen ausgiebigen Mittagsschlaf hinter sich. Es war ihnen feierlich versprochen worden, daß sie bis zwölf aufbleiben durften. Daß Annettchen lange vor der Zeit vermutlich in einer Sofaecke einschlafen würde, war eine andere Sache.
Ich saß mit Heiko am Kamin. Zwischendurch warf ich einen schnellen Blick auf meinen Ring. Ich war so unwahrscheinlich glücklich über dieses Geschenk! Jetzt lagen die paar Körnchen roter Erde drin, so wie in Heikos.
Dann gingen meine Blicke zu den anderen, zu dieser fröhlichen Runde, zu der Harmonie, der Gemütlichkeit. Zu all dem, was ich bald verlassen sollte. Mein Herz krampfte sich trotz allem ein bißchen zusammen. Aber - ich würde das alles ja nicht für immer verlassen! Ich würde doch zu Besuch kommen - oft, so oft wie nur möglich!
Ich würde manchmal Heimweh haben. Aber wenn ich nun weiterhin von Heiko getrennt leben müßte - wäre die Sehnsucht nach ihm nicht tausendmal schmerzlicher? Einmal muß man ja das Elternhaus verlassen. So hat die Natur es gewollt.
Die flüggen Jungen müssen eben das Nest verlassen und sehen, wie sie in der großen, harten Welt zurechtkommen.
Sie müssen das eigene Nest bauen - sie müssen eigene Erfahrungen sammeln.
Heiko drückte meine Hand. Ich lächelte.
Da saßen Senta und Rolf. Senta hatte keine Probleme. Für sie war die Zukunft sonnenklar. Sie würde den einzigen Sohn wohlhabender
Eltern heiraten, in der Nähe unseres lieben Elternhauses wohnen, sie würde es gut und sorgenfrei haben.
Während ich - , nicht nur hatte ich mich in einen Ausländer verliebt, sondern sogar in einen, dessen Milieu ich erst kennenlernen, dem
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