Saat der Lüge
normalerweise gut merken, und das ist in meinem Beruf auch unerlässlich. Das Problem ist nur, dass man als Journalistin jede Woche mit Dutzenden Menschen spricht, sie befragt, mit ihnen in Pressekonferenzen zu tun hat, vor Gericht, bei Werbeevents, Premieren oder anderen Veranstaltungen; Gesichter auf der Straße, auf Pressefotos, auf der Anklagebank, Gesichter von Menschen, die aus Gefängnistransportern steigen, in Handschellen und halb verborgen unter einer Jacke oder einem Pullover. Da musst du die Betrüger streng von den Pädophilen trennen und darfst auf keinen Fall die Mörder mit den Opfern in einen Topf werfen.
Du interessierst dich nur für diese Menschen, weil sie deine Story sind. Sie sind der Schlüssel zu einer schnellen Erledigung deiner Aufgabe, ein Tropfen im stets und oft unbewusst fließenden Strom aus Wörtern und Fotos. Aber sie erinnern sich an dich, weil du in ihrer Existenz die Ausnahme bist, die Person, die ihnen zuhört und mit ihnen fühlt, die sie bedrängt und ihnen schmeichelt, die insistiert oder Vorschläge macht, ob zum Guten oder Schlechten.
Umso schrecklicher ist der Moment, in dem du dich ratlos einem dieser Gesichter gegenüber siehst und nicht mehr das Geringste über die betreffende Person weißt. An diesem Morgen war die für Gesichter zuständige Schnittstelle in meinem Kopf verstopft mit mentalen Notizen aus der Gerichtsverhandlung eines Busfahrers, der vor einer Schule ein Kind überfahren hatte. Trotzdem kam mir, als ich das Gesicht des Mannes sah und es zu verarbeiten begann, als Erstes das Wort Curry in den Sinn und dann das Wort Mike. Er starrte mich interessiert an. Auch er verarbeitete mein Gesicht, aber er war schneller damit fertig und stand von der Bank auf, um zu mir herüberzukommen. Zwei Sekunden später machte es auch in meinem Kopf klick – ein Blitz, ein Schnappschuss.
Ich war gerade bei Gericht, um den üblichen Freitagssitzungen beizuwohnen. Seit der Identifizierung von Jennys Leiche und dem Treffen mit Mike waren drei Monate vergangen, und plötzlich saß dort der Currymann im Empfangsbereich des Gerichtsgebäudes. Sauberer und nüchterner als bei unserer ersten Begegnung, aber unverkennbar der Mann mit dem Curry. Der Mann, der vor dem Charlie’s gestanden und Cora belästigt hatte, als sie an jenem Abend aus dem Taxi gestiegen war. An dem Abend.
Während er nun auf mich zugelaufen kam, änderte ich instinktiv die Laufrichtung und verschwand in der Damentoilette, nicht hastig, aber geschäftige Eile vortäuschend, indem ich eifrig meine Tasche schwenkte. Es war nur ein Bauchgefühl, ein Ausweichmanöver, um potenziellem Ärger aus dem Weg zu gehen. Seelenruhig lächelte ich der obersten Amtsdienerin zu, die ebenfalls vor dem Spiegel stand. Jan, mit den wasserstoffblond gefärbten Haarspitzen und dem Cardiff-Akzent, die mir immer bei den kniffligen Adressdaten und der Schreibweise ausländischer Namen half. »Nicht du schon wieder, Schätzchen!«, sagte sie mit gespielter Verzweiflung und grinste. »So langsam können wir dir ’ne Dauerkarte ausstellen. Wie beim Rugby.«
Ich grinste zurück, weil Jan wirklich nett ist und sich zumindest keine Illusionen über die Wichtigkeit ihres Berufes macht. »Du warst bei dem Bustyp drin, oder? Eine Schande, das mit dem armen Kindchen. ’ne Menge Halunken heute, das Übliche, du weißt schon: Ladendiebe, Typen, die unberechtigt Arbeitslosenhilfe kassieren. Aber sonst nicht viel, was deine Leute interessieren würde.«
Sie hatte recht. »Meine Leute« interessierten sich für Sex, Mord und Gewalt. Am besten war eine Kombination aus allem, ansonsten taugte der Fall nur als Füllmaterial. Nicht einmal das Pech der kleinen Leute war dafür gut genug, es sei denn, es ging um einen Busfahrer, der ein Kind plattgemacht hatte. Dann konnte ein Fall schon mal auf Seite zwei oder drei vorrücken.
Ich wollte nicht mit dem Currymann reden. Inzwischen hatten auch unsere Konkurrenzzeitungen über Jennys Tod berichtet, und es waren ein oder zwei kurze Beiträge über sie in den lokalen Fernsehnachrichten aufgetaucht.
Jennys Autopsie hatte keine eindeutigen Ergebnisse gebracht. (Auch wenn ich inoffiziell erfahren hatte, dass Ertrinken als wahrscheinliche Todesursache angenommen wurde. An ihrer Leiche waren keine eindeutigen Zeichen von Gewalteinwirkung zu erkennen gewesen, bis auf eine Verletzung am Oberschenkel und eine im Gesicht, die sie sich vermutlich, wenn auch nicht nachweisbar, beim Sprung oder Sturz in den Fluss
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