Sacramentum
die Schöpfungsgeschichte und der Garten Eden seien nur Legenden. Ihr war noch nicht einmal im Traum eingefallen, dass das alles real sein könnte.
Liv zog die Nachttischschublade auf. Die Neugier hatte über ihre Müdigkeit gesiegt. Wie in jedem Hotelzimmer in den Vereinigten Staaten so lag auch hier eine Bibel in der Nachttischschublade. Liv schlug das Buch Genesis auf und überflog die ersten paar Seiten. Das Dünndruckpapier wirkte viel zu fragil für die bedeutungsvollen Worte, die es enthielt. Dann, im zehnten Vers des zweiten Kapitels, fand Liv etwas Interessantes:
Ein Strom entspringt in Eden, der den Garten bewässert; dort teilt er sich und wird zu vier Hauptflüssen. Der eine heißt Pischon; er ist es, der das ganze Land Hawila umfließt, wo es Gold gibt. Das Gold jenes Landes ist gut; dort gibt es auch Bdelliumharz und Karmeolsteine. Der zweite Strom heißt Gihon; er ist es, der das ganze Land Kusch umfließt. Der dritte Strom heißt Tigris; er ist es, der östlich an Assur vorbeifließt. Der vierte Strom ist der Euphrat.
Diese legendäre Geschichte war tatsächlich mit den Namen von realen, modernen Orten gewürzt: Tigris, Assur, Euphrat. Liv hatte die Geschichte des Sündenfalls stets als so etwas wie eine Parabel betrachtet, eine Metapher für eine theologische Idee. Doch nun las sie sie wie den wahren Bericht über ein Exil, als eine so furchtbare Geschichte, dass der Mensch schon vor dem Ende des nächsten Kapitels aus dem Paradies vertrieben worden war.
Gott der Herr schickte ihn aus dem Garten von Eden weg, damit er den Ackerboden bestellte, von dem er genommen war. Er vertrieb den Menschen und stellte östlich des Gartens von Eden die Cherubim auf und das lodernde Flammenschwert, damit sie den Weg zum Baum des Lebens bewachten.
Liv griff nach ihrem Notizbuch und blätterte zu einer leeren Seite. Sie schrieb all die Ortsnamen nieder, die im Buch Genesis erwähnt wurden und die noch immer existierten; dann schaute sie sich die Liste genauer an. Es fiel ihr noch immer schwer zu akzeptieren, dass der Garten Eden genauso real sein könnte wie die anderen Orte auch. Sie setzte mehrere Fragezeichen dahinter, bevor sie weiterlas und nach weiteren Hinweisen darauf suchte, wo ihr Schicksal liegen könnte. Doch zu guter Letzt wurde sie von der Fülle der Sprache und ihrer eigenen Müdigkeit übermannt. In der Mitte von Kapitel vier, kurz nachdem Kain seinen Bruder Abel erschlagen hatte, fielen ihr die Augen zu, und das Buch glitt ihr aus der Hand.
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Badiyat al-Sham
Der Geist folgte mühelos dem Konvoi in sicherem Abstand durch die Wüste, da der Staub, den die drei Fahrzeuge aufwirbelten, über Meilen hinweg zu sehen war und das Pferd des Geistes in diesem Gelände genauso schnell vorankam wie die Jeeps. Nach fast einer Stunde Fahrt verschwand die Staubwolke am Horizont. Offenbar hatte der Konvoi angehalten. Der Geist folgte den Reifenspuren, bis er das Gefühl hatte, nahe genug an sie heranzukommen; dann ließ er sein Pferd im Schatten eines Felsens zurück und ging den Rest zu Fuß. Er hatte fast erreicht, was er für die Position des Konvois hielt, als er plötzlich einen Schuss hörte.
Der Geist nahm seine AK-47 vom Rücken und legte sie an die Schulter, nachdem er sich auf den Boden geworfen hatte. Aufmerksam suchte er das Land vor sich ab, und schließlich sah er eine kleine Staubfahne, die sich wie Rauch in der Ferne erhob. Dem Geräusch nach zu urteilen, war der Schuss aus einer Schrotflinte gekommen – einer Nahkampfwaffe –, also stand zu bezweifeln, dass er gegen ihn gerichtet gewesen war. Trotzdem hielt sich der Geist fortan dicht am Boden.
Die Fahrzeuge parkten im Schatten eines weiteren Abraumberges. Einer der Männer in den weißen Overalls hockte auf dem Boden und montierte eine breite Röhre ab, die tief in die Erde getrieben worden war. In diesen Röhren wurden leichte Sprengladungen gezündet, um anschließend messen zu können, wie die Wellen der Explosion durch den Boden gingen. Feste Objekte reflektierten diese Wellen anders als Sand oder Flüssigkeiten. Das war Teil der typischen seismischen Untersuchungen bei solch einem Projekt.
Die drei Zivilisten, die das Sagen hatten, kauerten über einem Laptop und studierten die Ergebnisse. Irgendetwas schien sie in Aufregung zu versetzen. Nach einiger Diskussion deuteten sie zu einer Stelle nicht weit vom Versteck des Geistes entfernt und gingen auf ihn zu. Die Arbeiter folgten ihnen mit Spitzhacken und Schaufeln. Die Wachen
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