Saeculum
Augen. Bastian konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Elfe, dachte er wieder.
Sie lächelte und einen Moment lang fürchtete er, er hätte seinen Gedanken laut ausgesprochen, ohne es zu merken.
»Was bedeutet der Titel?«, fragte Bastian, mehr aus Verlegenheit und weil er sich ertappt fühlte als aus reinem Interesse.
»Planxty ist ein Wort, das O'Carolan selbst erfunden hat. So hat er Melodien genannt, die er für Leute komponiert hat, die besonders freundlich zu ihm waren. Einer namens Drew hat wohl das Glück gehabt, Warzes Lieblingslied gewidmet zu bekommen.«
»Schöne Geschichte.« Bastian streckte sich auf dem Boden aus und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Es hätte alles so wunderbar sein können, perfekt, trotz der Fliegen und der Breipampe. Warze musste nur Iris' Lockruf hören und zurückkommen. Wenn nicht … Bastian richtete sich auf, als sein Gehirn begann, zum hundertsten Mal sämtliche Möglichkeiten abzuspulen, die schrecklichen und die weniger schrecklichen. Schluss jetzt.
»Ich wüsste zu gern, was in diesem Medaillon ist«, sagte er, als Iris ihre nächste Spielpause einlegte. Er blinzelte zu den Baumwipfeln hinauf. Der Bach plätscherte in die entstehende Stille hinein. »Du kennst sie besser. Hast du keine Idee?«
»Nein. Das Medaillon selbst kann es jedenfalls nicht sein, das ist Massenware, kriegst du auf jedem Mittelaltermarkt. Messing, 29 Euro 90.«
»Eben. ›Was innen ist, ist das, was zählt.‹« Bastian nestelte an seiner Gürteltasche. »Ich habe vorhin übrigens noch eins von diesen Gedichten gefunden.«
»Wirklich? Lies vor.«
Bastian räusperte sich.
»Ich weiß, wer dir folgt, und ich weiß, wen du fliehst. Das solltest du bedenken. Er ist dir auch nahe, wenn du ihn nicht siehst, und möchte dir etwas schenken.«
Er hob den Kopf und erwartete den Anblick von Iris' ratlosem Gesicht. Stattdessen sah er in ihre fassungslos geweiteten Augen.
»Verstehst du, was gemeint ist?«
»Gib das her.«
Er reichte es ihr, verunsichert von ihrem plötzlichen Stimmungswechsel. »Was ist los?«
»Nichts.«
Sie starrte lange auf die vier Zeilen, bevor sie ihm die Rinde zurückgab.
»Du weißt, was das zu bedeuten hat, nicht?«
Sie schwieg, packte ihre Harfe in die Tasche und stand auf.
»Oh komm, das ist nicht fair. Erklär es mir.«
Iris seufzte tief und sah ihn an. Ihre Augen wirkten dunkler als vorher. Wachsamer. »Ich habe keine Ahnung, was es zu bedeuten hat. Ich wünschte, es wäre anders. Glaub mir oder lass es bleiben.«
Die Höhle war ein guter Platz zum Nachdenken. Iris überprüfte, ob ihre Harfentasche richtig verschlossen war, bevor sie sie an die niedrige Felswand lehnte. Sie zog ihr Messer aus dem Gürtel und fuhr sachte mit dem Finger daran entlang. Spitz und scharf. Gut.
Draußen war es ruhig, trotzdem behielt sie die Umgebung im Blick. Sie hatte zu heftig reagiert vorhin, keine Frage. Sie hätte das Rindenstück in Ruhe betrachten sollen, sich die Handschrift genau ansehen. Obwohl, seine war es nicht. Auf keinen Fall. Er dichtete nicht. Und er war nicht hier, das war völlig unvorstellbar. Überall anders, aber nicht in dieser Abgeschiedenheit. Falls doch, hätte er sich schon längst auf sie gestürzt. Worauf sollte er warten?
Ich weiß, wer dir folgt, und ich weiß, wen du fliehst - vielleicht war es gar nicht auf sie gemünzt. Schließlich wusste niemand davon. Sie stützte das Kinn auf ihre Knie und schloss die Augen. Gestern … Alma war mit der ersten Botschaft auf einem Rindenstück aufgetaucht. Hatte sie Mona vom Orga-Team gezeigt, ihr eine Frage dazu gestellt. Und Mona? Iris rief sich die Szene noch einmal ins Gedächtnis. Mona hatte ehrlich erstaunt gewirkt. Sie war nicht gut im Verstellen, sie musste sich ja sogar bei den Schaukämpfen immer auf die Lippe beißen, um nicht zu lachen. Also kamen die Texte nicht vom Orga-Team und das bedeutete …
»Ich weiß es nicht«, flüsterte sie dem Fels zu. Das Messer in ihrer Hand spiegelte seine hellgrauen Strukturen. Sie atmete durch. Jetzt hieß es Nerven bewahren und wachsam sein. Keinem vertrauen.
In ihre Gedanken drängte sich das Bild von Bastian, diesem bedauernswerten, kurzsichtigen Kerl, den Sandra plötzlich so kalt behandelte. Nein, ihm auch nicht. Und nein, das war nicht schade. Es war vernünftig.
Sie bedeckte ihre Harfentasche notdürftig mit trockenen Zweigen und Blättern und steckte das Messer wieder an seinen Platz im Gürtel. Hierauf war Verlass. Falls er ihr wirklich in die
Weitere Kostenlose Bücher