Saemtliche Dramen
TICHON antwortet nicht.) Von 1861 bis 1863 führte ich in Sankt Petersburg ein sündiges Leben, das mir keinerlei Genuss verschaffte. Ich lebte mit nihilistischen Freunden, die mich meines Geldbeutels wegen schätzten. Ich langweilte mich furchtbar. Erhängen hätte ich mich können.
[Dass ich es nicht getan habe, lag an einer Hoffnung, die ich hegte, ich weiß nicht, worauf.]
( TICHON sagt nichts.)
Ich hatte drei Wohnungen.
TICHON
Drei?
STAWROGIN
Ja. In einer lebte Marja Lebjadkina, die meine Frau wurde. In den beiden anderen traf ich meine Mätressen. Kleinbürger hatten mir ein Zimmer vermietet, sie bewohnten die übrigen Zimmer und arbeiteten in der Stadt. Also war ich recht häufig mit ihrer zwölfjährigen Tochter Matrjoscha allein … (Er hält inne.)
TICHON
Wollen Sie weitersprechen oder lieber schweigen?
STAWROGIN
Weitersprechen. Sie war ein sehr sanftes und ruhiges Kind mit blassem, sommersprossigem Gesicht. Eines Tages fand ich mein Taschenmesser nicht wieder. Ich sagte es der Vermieterin, die ihre Tochter beschuldigte und vor meinen Augen bis aufs Blut prügelte. Am gleichen Abend fand ich das Taschenmesser in den Falten meiner Decke. Ich steckte es in meine Weste und warf es auf der Straße weg, damit niemand etwas erfuhr. Drei Tage später kehrte ich in Matrjoschas Haus zurück.
(Er stockt.)
TICHON
Haben Sie mit ihren Eltern gesprochen?
STAWROGIN
Nein. Sie waren nicht da. Matrjoscha war allein.
TICHON
Aha.
STAWROGIN
Ja. Allein. Sie saß auf einer kleinen Bank in einer Ecke, mit dem Rücken zu mir. Ich beobachtete sie lange von meinem Zimmer aus. Auf einmal begann sie ganz, ganz leise zu singen. Mein Herz fing an zu hämmern. Ich stand auf und näherte mich ihr langsam.
[In den Fenstern standen Geranien, die Sonne brannte.]
Ich setzte mich still neben sie auf den Fußboden. Da bekam sie Angst und richtete sich jäh auf. Ich nahm ihre Hand und küsste sie; sie lachte wie ein Kind; ich zwang sie, sich wieder zu setzen, aber sie wollte erneut aufstehen, zutiefst erschrocken. Ich küsste ihr wieder die Hand. Dann nahm ich sie auf den Schoß. Sie sträubte sich kurz, lächelte dann aber wie zuvor. Ich lachte auch. Da schlang sie mir die Arme um den Hals und küsste mich …
(Er hält inne. TICHON sieht ihn an. STAWROGIN hält seinem Blick stand, zeigt ihm dann ein unbeschriebenes Blatt Papier.)
Hier habe ich in meinem Bericht eine Lücke gelassen.
TICHON
Sagen Sie mir, was dann geschah?
STAWROGIN (lacht unbeholfen, schaut verstört)
Nein, nein. Später. Wenn Sie dessen würdig sind … ( TICHON sieht ihn an.) Aber es ist nichts passiert, wo denken Sie hin? Überhaupt nichts … Am besten, bitte, am besten wäre, wenn Sie mich nicht ansehen würden. (Ganz leise) Und strapazieren Sie nicht meine Geduld. ( TICHON schlägt die Augen nieder.) Als ich zwei Tage darauf wiederkam, floh Matrjoscha ins Nebenzimmer, sobald sie mich sah. Aber ich bemerkte, dass sie ihrer Mutter nichts erzählt hatte. Trotzdem hatte ich Angst, die ganze Zeit furchtbare Angst, dass sie es tun würde. Eines Tages dann sagte ihre Mutter, bevor sie ging, ihre Tochter liege mit Fieber im Bett. Ich saß reglos in meinem Zimmer und schaute nach drüben, zum Bett im Halbdunkel. Nach einer Stunde bewegte sie sich. Sie kam aus dem Schatten, sehr mager in ihrem Nachthemdchen, auf die Schwelle meines Zimmers, schüttelte den Kopf und drohte mir mit ihrer schmächtigen kleinen Faust. Dann lief sie weg. Ich hörte, wie sie über den Laubengang rannte, stand auf und sah noch, wie sie in einer Kammer verschwand, in der Holz gelagert wurde. Ich wusste, was sie vorhatte, aber ich setzte mich hin und zwang mich, zwanzig Minuten zu warten.
[Im Hof sang jemand, eine Fliege umsummte mich. Ich fing sie, hielt sie kurz in der Hand und ließ sie fliegen.]
Ich weiß noch, dass auf einer Geranie neben mir langsam eine kleine rote Spinne krabbelte. Als die zwanzig Minuten vorbei waren, zwang ich mir noch eine Viertelstunde ab. Als ich ging, schaute ich durch einen Spalt in die Kammer. Matrjoscha hatte sich erhängt. Ich ging weg und spielte den ganzen Abend lang Karten, ich fühlte mich so erlöst.
TICHON
Erlöst?
STAWROGIN (wechselt den Tonfall)
Ja. Aber zugleich wusste ich, dass dieses Gefühl nur durch eine unglaubliche Feigheit möglich war und ich mich nie, nie wieder als anständiger Mensch würde fühlen können, weder auf Erden noch in einem anderen Leben, niemals …
TICHON
Darum haben Sie sich so seltsam
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